Buy a car!

Yeah, buy a Saturn!

Autofahrer

 

Wer den Schaden hat, hat also auch den Spott: Warum mussten die von der Radfirma aber auch ausgerechnet den Autohersteller Saturn als Sponsor auf ihre Jerseys nehmen!?

Überraschung! In der Schule, in der wir übernachtet haben, taucht morgens kurz vor sieben plötzlich eine Frau auf. Ich stehe gerade im Lehrerzimmer vor dem offenen Kühlschrank und fülle Eiswürfel in unsere Wasserflaschen. Irgendwie gelingt es mir, das Gespräch an der Tatsache vorbeizulenken, dass wir eigentlich nicht hier sein dürften. Als ich gerade innerlich aufatmen will, kommt überflüssigerweise noch ein Mann dazu. Doch auch der lässt sich schließlich von meinen Erzählungen faszinieren und verrät mir daraufhin, wer im Ort seiner Meinung nach mein kaputtes Hinterrad reparieren könnte. – Trotz des an sich angenehmen Gesprächsklimas sind wir dann doch ziemlich schnell aus der Schule raus.

In einem Hotelcafé frühstücken wir Pancakes und Waffeln mit heißen Erdbeeren und Schlagobers (diesen Tip verdanken wir ebenfalls dem netten Herrn in der Schule).

Der Supermarkt gleich nebenan gehört jenem Mann, der genau jene Trek-Naben-Nuss besitzt, mit der man bei meinem Fahrrad die Zahnkränze abschrauben kann. Er nimmt mich kurzerhand mit nach Hause und hilft mir beim Speichenwechseln. Dabei erfahre ich so ganz nebenbei, dass dieses unscheinbare Teil von der Größe einer Doughnut 64 Dollar kostet, in dieser Gegend rar ist wie eine Mozartkugel und ausschließlich für bestimmte Fahrräder dieser Marke gebraucht wird. – Kann es sein, dass die Jungs in Madison vergessen haben, uns etwas Wichtiges mitzuteilen?!

Irgendwann gestern hab ich intelligenterweise meinen linken Radhandschuh verbummelt. Wenn diese Reise nicht bald zu Ende ist, werde ich wohl noch einmal nackt im Sattel sitzen. Während Tobi sein Rad repariert, schreibe ich Postkarten und quatsche mit der Waffel-Kellnerin.

Unter all den ausgetauschten Freundlichkeiten findet sich schließlich auch die Empfehlung, an der nächstgrößeren Kreuzung die Straße nach Norden zu nehmen, um die malerischen Burney Falls zu besuchen. Als Entscheidungshilfe bekommen wir jede Menge Wasserfall-Postkarten vorgelegt, die beweisen, dass die Burney Falls wirklich wunderschön sind. Leider bedeuten sie auch einen Umweg von fast 20 Meilen.

Wir schließen die Augen und stellen uns zu den Postkartenbildern das Rauschen des Wasserfalls vor, den feinen, kühlenden Nebel, der auf unserer Haut in kleinen glitzernden Wasserperlen liegen bleibt, und das satte Grün der Farne und Moosflechten an den Ufern des Pools: Was für eine Wohltat für sonnengeschundene Augen! Aaah … – Erfrischt und erholt beschließen wir, an der besagten Kreuzung nicht nach Burney Falls zu fahren, sondern stattdessen gleich nach Süden (in Richtung San Francisco) abzubiegen und dabei als Nächstes Kurs auf Cassel zu nehmen, wo angeblich Clint Eastwood wohnt.

Ein tolles Gefühl ist das, wieder mit einem vollwertigen Rad unterwegs zu sein.

Noch ganz befangen von „Dirty Harry’s“ Sommerfrische (Clints Briefträger zufolge lässt sich der alte Herr hier immer per Hubschrauber auf seine Ranch einfliegen) fahren wir auf der 89 weiter in Richtung Eskimo Hill.

Kaliforniens Lkw-Fahrer gehen für mich in die Geschichte dieser Reise mit dem Prädikat „Assholes of America“ ein! Für Holztransporte gibt es vom Händler offenbar Prämien für die Bestzeit vom Wald zum Sägewerk: Wer bremst, verliert. Und wegen ein, zwei mickrigen Radfahrern wird man doch einen 40-Tonner trotz Gegenverkehrs nicht herunterbremsen. Was das wieder an Zeit und Sprit kostet! Nein, da investieren wir lieber eine Viertelstunde an „Donna’s Drive-Inn“, um mit dem Maurerspachtel die hartnäckigen Hirnreste von der Stoßstange zu kratzen.

Das eine Mal war es derart knapp, dass ich nicht weiß, wie mich der Typ trotz acht tödlicher Achsen und Sogeffekt überhaupt verfehlen konnte. Wenn ich meinen linken kleinen Finger von der Lenkstange weggestreckt hätte, hätte ich mir vermutlich das Nägelschneiden bis zum Ende meines Lebens erspart.

Bei Old Station lassen wir uns in einem Restaurant die örtliche Spezialität servieren: den echten, unverwechselbaren „Shasta Burger“ – kulinarisch eine beinahe ebenso unentbehrliche Erfindung wie das einzigartige Großglockner-Schnitzel. Gestärkt und übellaunig nehmen wir danach Eskimo Hill in Angriff.

Irgendein weiser Mensch hat mal gesagt: „Man wächst mit jeder Aufgabe!“ Ich behaupte: „Man schrumpft mit jedem Tiefschlag!“ Kurz vor dem Gipfel reißt mit einem unverhältnismäßig seidenweichen Schnalzer die nächste Speiche an meinem Hinterrad. Natürlich auf derselben, irreparablen Seite wie beim ersten Mal. Ohne gleichmäßige Spannung windet sich die Felge in kürzester Zeit zu einem bemerkenswerten Achter. Und ich kann nicht einmal die umliegenden Speichen fester ziehen, weil die Schrauben schon zu ausgeleiert sind.

Dann stehen wir auf dem Gipfel: „Eskimo Hill“ – nie wieder werden wir auf dieser Reise so hoch oben sein wie jetzt. Mit 6000 Fuß ist dies der letzte große Berg vor San Francisco.

Ich muss die hintere Bremse vom Zugseil lösen, weil sich sonst das Rad nicht mehr drehen läßt. Toll, acht Grad Gefälle auf vier Kilometer, und ich hab nur die Vorderradbremse zur Verfügung. Noch schlimmer als die drohende Gefahr eines Bremsversagens wiegt jedoch der seelische Schmerz: Während Stefan vor mir davonzischt, muss ich die sonst so erholsame Abfahrt im Schneckentempo zurücklegen. Mir blutet das Herz! Langsam taste ich mich an eine halbwegs risikofreie Höchstgeschwindigkeit heran – aber mehr als 30 km/h sind kaum möglich. Und dabei könnte man es gerade hier so schön laufen lassen.

Es geht zügig bergab. Tobi bleibt mit seiner gebrochenen Speiche hinter mir zurück. Ich habe auch einen leichten Achter; ein paar Speichen sind lose. Aber das erlaubt immerhin ein gemütliches Rollenlassen. Unter den Blinden ist der Einäugige eben König.

Nach einer Meile kommt mir plötzlich ein Tandem entgegen: ein junges Pärchen, gut ausgerüstet, auf dem Weg – irgendwohin. Das Ziel ist in diesem Moment egal, genauso wie ihre Existenz, die sie zurückgelassen haben. Die beiden haben alles mit, was man zum Leben braucht: Ein Hauch von Romantik ist auch dabei …

Der Anblick ist zu schön: Auf einmal befinde ich mich im Frieden mit mir und der Welt. Ich stelle mir Michelangelos Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle vor: Adam, der die Hand nach seinem Schöpfer ausstreckt, um ein wenig von dessen göttlichem Funken zu erhaschen. Unwillkürlich habe ich auch meine Hand ausgestreckt. Nicht so theatralisch wie bei Michelangelo. Eher schon wie im römischen Zirkus: Daumen nach oben. Ihr sollt leben. Aber das tut ihr sowieso schon. Toll, was ihr da macht. Den Berg habt ihr bald geschafft.

Der Funke springt über. Die beiden lächeln. Richtig glücklich sehen sie aus. Sie verstehen, worum’s geht. Bloß: Sie stehen erst am Anfang. Für mich sind’s die letzten Tage. Bedauern? Mitgefühl? Schwer zu sagen. Vielleicht auch Neid.

Wir arbeiten uns weiter durch die Gesteinsschichten nach unten. Es ist eine Art Countdown in die Ebene, denn unser Ziel, der Pazifik, liegt bei null. Die ersten Höhenmeter, die es nun wieder abwärts geht, haben wir erst vor ein paar Minuten mühselig erklettert. Verschwenderisch gehen wir jetzt damit um. Nie wieder wird uns unsere Reise auf solche Höhen führen wie jetzt. Niemals wieder. Die Endgültigkeit, die darin liegt, ist überwältigend.

Die Berge – Symbole für unsere Hartnäckigkeit, Monumente unserer Willenskraft. Für mich hatten sie außerdem eine ganz besondere Bedeutung während all der Wochen: ein Gleichnis für den Kampf gegen die Schwierigkeiten des Alltags, für den Entschluss, niemals aufzugeben. – Berge bekämpfen: Das hat ein bisschen was von Don Quixote, der gegen Windmühlen kämpft. Aber eben nur ein bisschen. Denn unser Kampf ist nun vorbei.

Auf dem Weg hinunter von Eskimo Hill erleide ich einen kleinen Tod. Es sind nicht nur die unsäglichen Herausforderungen dieser Reise, die plötzlich auf dem Sterbebett liegen. Es ist unsere eigene Existenz, die Inhalte eines gewaltigen Sommers, von denen wir nun langsam Abschied nehmen müssen. Ich spüre das Ende kommen.

Immer weiter geht es abwärts, scheinbar unaufhaltsam – obwohl man doch so leicht die Bremsen ziehen könnte. Schließlich werden wir auch noch das verbrauchen, was wir zu Beginn dieser Reise – vor Monaten, an der Ostküste – angehäuft haben: Sacramento Valley liegt nur noch 100 Meter über dem Meer.

Es ist, als ob mein ganzes Leben an mir vorbeizieht. Die Gefühle übermannen mich. Ich muss gegen Tränen ankämpfen. – Männer weinen nicht? Blödsinn. Aber sie sollten es nicht tun. Nicht auf einer winkeligen Straße bei 50 km/h.

Wir ziehen durch, hinunter nach Shingletown. Und weiter. Schließlich finden wir sogar die Black Butte Road, eine wenig befahrene Verbindungsstraße, die uns ein Einheimischer empfohlen hat.

Schön ist’s hier. Rauf und runter über eine Unzahl malerischer Hügel und Täler. Das erinnert irgendwie an die Weinberge von Nussdorf bei Wien.

Die Black Butte Road liefert endlich jenen Panoramablick ins weite Sacramento Valley, den ich mir eigentlich für unseren feierlichen Einzug nach Kalifornien vorgestellt hatte. Im westlichen Dunst ist bereits die letzte Bergkette zu erkennen, die uns noch den Blick auf den Ozean versperrt. Wir aber werden uns in der Ebene nach Süden wenden, den Flusslauf des Sacramento River entlang.

Als wir die Hügellandschaft überquert haben, geht’s nur noch bergab. Die Straße ist länger und der Weg weiter, als wir dachten. Schmale Serpentinen führen einen steilen Hang hinunter und eröffnen erneut eine phantastische Aussicht auf das Tal. Und schließlich endlose Reihen von Walnussbäumen. Jetzt sind wir wirklich in Kalifornien! Das hat nun endlich auch die Vegetation kapiert.

An einer Kreuzung eine Stunde vor Red Bluff erweckt eine urige Bar unsere Aufmerksamkeit: ungeschälte Fichtenholzbalken an der Straßenfront. Altes, rostiges Bauerngerät im Graben und auf dem ungepflegten Rasen neben dem Haus. Neonflackernde Bierwerbung hinter schmutzigen Auslagenscheiben: Wir bekommen Lust, hier zu bleiben und am Abend die Bar auch von innen auf uns wirken zu lassen. Da uns allerdings unser künftiger Schlafplatz nach Begutachtung der vier bis fünf umliegenden Häuser nicht sofort ins Auge springt, besuchen wir die Bar lieber gleich. Es ist sowieso schon Abend. Und dieses Lokal haben wir uns nach 148 Kilometern Radfahren wirklich verdient.

Die Bar erweist sich als urgemütlich – etwas für echte Barflies: schummriges Licht, zwei Barkeeper, drei Stammgäste – natürlich alles alte Freunde. Wir mischen uns unauffällig unters Volk. Und werden prompt als verrückte Exoten akzeptiert. Eine Hand voll handsignierter Ein-Dollar-Scheine hängt an der Decke. Wir nageln noch einen dazu. Unsere Widmung: „California kicks Ass. Stefan and Tobi 1996“.

Komisch: So viele Reißzwecken an der Decke, aber nur wenige Dollars! Jede Wette, dass die das Ding wieder runternehmen, sobald wir weg sind! – Jedenfalls muss ich natürlich gleich wieder motzen, weil Tobi so einen blöden Spruch geschrieben hat. Retourkutsche: „Dir wäre selber auch nichts Besseres eingefallen.“ – Recht hat er.

Die Bar ist auch sonst beeindruckend. Der Barmann trägt seit einem Motorradunfall eine Rippe im Unterkiefer und ernährt sich seither nur noch flüssig (völlig freiwillig, versteht sich). Die kugelrunde Barfrau an seiner Seite hat sich dafür allem Anschein nach auf feste Nahrung spezialisiert.

Zwei Burritos und einen eisgekühlten Pitcher Bier später haben wir dann auch einen netten Schlafplatz für die Nacht: Henry, der neben uns an der Bar sitzt, hat zwei Zelte in seiner Garage (hundert Meter die Straße hinunter), die er gerne für uns aufstellt, wenn wir uns dafür morgen ein bisschen mit seiner Frau unterhalten, die einen Deutschkurs in Red Bluff belegt hat. – Na ja: Unser Deutsch ist zwar schon ein bisschen eingerostet – aber was tut man nicht alles für eine Übernachtung …

Damit wir keine Chance haben, ihm beim Aufbauen der Zelte zu helfen, schiebt uns Henry in einem unbewachten Augenblick noch schnell einen weiteren Pitcher Bier hin, springt auf, läuft nach Hause, stellt die Zelte in den Garten und ist zurück, noch ehe wir nach dem letzten Schluck rülpsen können.

Vor dem Schlafengehen dürfen wir in Henrys aufblasbarem Gummi-Pool planschen. Kaum sind wir dem nächtlichen Bad entstiegen, da kommt Ehefrau Valerie von der Arbeit nach Hause. Nach einem kurzen, angeregten Pläuschchen beschließen wir allerdings, die weitere Konversation auf morgen zu verlegen. Valerie wünscht uns in tadellosem Deutsch eine „Gute Nacht“.


Über die Autoren

Stefan & Tobi