Gesegnet sind die Radfahrer.

Bergpredigt

 

Bergprüfung: Heute sind die Big Horn Mountains dran. (Oder sind heute wir dran?)

Nachdem wir den Morgen mit unseren Gastgebern verplaudert haben (wieder einmal), kaufen wir in Sheridan dringend notwendige (Über-)Lebensmittel ein. Unser wohldurchdachtes Konzept sieht vor, dass das Essen, das wir in die Berge hinaufschleppen, auch dann noch reichen muss, wenn wir – abgeschnitten von jeglichen Supermärkten und Imbissbuden – die Nacht zwischen zähen, haarigen Big-Horn-Schafen verbringen müssen.

Beim Aufbruch von Sheridan ist es ungefähr zehn. 25 Meilen später erreichen wir den äußersten zivilisierten Vorposten: Ein letzter Anruf daheim, so als ahnten wir, dass das Leben, so wie wir es bisher kannten, abrupt zu Ende gehen wird. Aber was sind schon Ahnungen!

Am Würstelstand auf dem Weg gibt man uns ein paar letzte aufmunternde Worte mit: „Four Dollars 25 Cents, guys!“ Dann gibt es keine Ausreden mehr.

Zwei Stunden arbeiten wir an der ersten Steigung, ohne eine Pause zu machen. Kühe grinsen uns schadenfroh entgegen, und immer, wenn es scheint, als hätte der Berg nun bald ein Ende, belehren uns die stinkenden Bremsen der entgegenkommenden Autos darüber, dass der Gipfel noch lange nicht erreicht sein kann.

Als das Ärgste überstanden ist, halten wir Mittagspause auf einer amerikanischen Almwiese. Wir geben uns redlich Mühe, den gewichtigsten Teil unserer Vorräte zu vertilgen, und nutzen danach (nach ungefähr 50 Meilen) einen weiteren Stopp an einer Bar, um unsere Wasserspeicher (innere wie äußere) mit kristallklarem Eiswasser aufzutanken.

Vor Burgess Junction plötzlich Straßenarbeiten. Wir quatschen ein paar Mädchen an, die dort Ferialaushilfe machen und in Helm und Gummistiefeln Fähnchen schwenken (die machen das sehr gut, ehrlich). Eine der sichtlich gelangweilten Damen loben wir, weil sie so zielgenau Kieselsteine auf einen Haufen neben der Straße werfen kann: Wenn sie ein paar Jahre so weitermacht, kann sie bestimmt am Ende ihren eigenen Berg eröffnen und selber Maut einheben. – Eine freie Garage in der nächsten Stadt hat sie zwar nicht für uns, doch dafür macht die Kunde die Runde unter den Girls (und berechnend sind wir ja nicht – wir doch nicht!).

Eineinhalb Stunden später – wir radeln bereits in Trance und schon wieder bergauf – schleift sich neben mir ein Geländewagen ein. Ich habe Halluzinationen: Im Wagen sitzen vier hübsche Mädchen („Haaaiii!!!“). Die blonde Halluzination am Lenkrad fragt mich, ob wir einen Platz zum Schlafen benötigen und ob wir vom Radfahren nicht langsam hungrig wären (wohl eine akustische Fata Morgana). Ich bejahe mit glasigem Blick. Daraufhin reicht mir die niedliche dunkelhaarige Illusion auf dem Beifahrersitz aus dem fahrenden Auto einen Zettel mit einer Adresse in Lovell (ein bisschen weit, aber angesichts dieser Schönheiten werden wir es schon schaffen). Als ich Stefan eine halbe Stunde später auf dem Gipfel einhole, will er mir nicht glauben. Aber der Zettel in meiner Tasche existiert und die Schrift ist noch immer nicht verblasst.

Aus einem vorbeifahrenden Auto ruft mir jemand „Nice Legs!“ zu. Dunkel steigt in mir die Erinnerung auf, dass eines der Baustellen-Mädels versprochen hatte, mir das nach der Arbeit bei der Heimfahrt zuzurufen. Nett, wirklich. – Komisch, trotzdem fühle ich mich jetzt ein klitzeklein wenig verarscht …

Ein paar hundert Meter nach den ersten Schneefeldern erreicht die Etappe mit rund 3100 Metern ihren Höhepunkt.

Der Ausblick vom Berg ist fast noch atemberaubender als die Perspektive auf das von uns herbeigeträumte Abendprogramm: Von hier oben sieht man direkt hinunter in die 2000 Meter tiefer gelegene Ebene.

Ein ignoranter Wohnwagenfahrer schleicht oben kurz vor dem Gipfel mit nur unwesentlich höherem Tempo an mir vorbei und bläst mir dabei den Verwesungsgeruch seines geschundenen Motors ins Gesicht. – Sekunden später ziehe ich mühelos an ihm vorbei in Richtung Tal.

Die Straße weist ein Gefälle von über 10% auf. Notausfahrten mit tiefem Kiesbett warten an den Kehren auf die, die das Lenkrad nicht rechtzeitig herumreißen können oder deren Bremsen versagen. Es fängt zu nieseln an. Aber nur ganz leicht. Das macht den Asphalt schön ölig. Doch wir schonen uns nicht. Immer, wenn sich die Straße leicht in die Kurve legt, merkt man, dass das Gepäck samt Hinterrad lieber geradeaus möchte. Hinzu kommt kerniger Seitenwind. Bei 85 km/h schmiert das Hinterrad dann tatsächlich langsam zur Seite. Gerade jetzt, wo’s so schön war. Mit freudiger Anteilnahme stellen wir fest, dass die Bremsen trotz Nieselregen noch nicht den Dienst versagen. Bei Tempo 40 dürfen sie sich wieder für ein paar Minuten erholen.

Unten im Becken empfängt uns die feuchte, klebrige Hitze des Big Horn River im Sonnenuntergang: Bei der Abfahrt stieg die Temperatur binnen weniger Minuten um rund 20 Grad.

Der Berg läuft schließlich in eine weite Steppenlandschaft aus. Wir reißen uns Jacke und Halstuch vom Leib und strampeln in die ungeschützte Ebene hinaus. Wind kommt auf. Unglaublicher Wind. Es weht uns fast von den Rädern. Aber darauf können wir jetzt keine Rücksicht nehmen. Wir müssen ja heute noch nach Lovell.

Im peitschenden Sturm überholen wir zwei Mädels, die mit ihren Rädern von Rapid City nach Yellowstone Park unterwegs sind. Schließlich lässt der Wind nach, die Straße macht einen Knick nach links und wir überqueren auf einer langen Brücke die weitläufigen Aulandschaften des Big Horn Lake.

Als wir in Lovell ankommen, ist es fast dunkel. Acht Stunden netto sind wir im Sattel gesessen. 174 Kilometer auf der 14a, 2000 Höhenmeter hinauf ins Gebirge, dann nach kurzer Abfahrt noch einen zweiten, etwas höheren Berg hinauf und das Ganze wieder in die Ebene hinter den Big Horn Mountains hinab. Auf der Karte stellen die Big Horns die ersten „Rippel“ der Rocky Mountains dar. (Das kann ja heiter werden.)

Als wir an der Haustür von „Julia“ klopfen, merken wir sehr schnell, dass uns die Phantasie auf der Bergetappe ein bisschen durchgegangen ist (aber wer weiß, ob wir sonst bis Lovell gekommen wären). Julias Vater Gary ist nicht nur Turnlehrer, sondern auch selbst begeisterter Hobbyradfahrer; und er empfängt uns, als ob wir seine alten Nachbarn oder die neuen Untermieter wären.

Der Mann ist wirklich gut auf uns vorbereitet: Er hatte uns zwar früher erwartet als 21 Uhr, aber dafür stopft er uns jetzt mit allerlei Delikatessen voll. Gierig, wie wir sind, schlingen wir fast alles in uns hinein. Dann wird getratscht und ins Bett gegangen – natürlich jeder in sein eigenes.

Vor dem Schlafengehen hat uns Gary noch mit unermesslichem Vertrauen überschüttet: „Ich muss morgen um 6 Uhr als Letzter aus dem Haus. Ihr könnt gern noch einen Tag bleiben. Der Kühlschrank ist voll. Bedient euch!“

Ich bin von unserem Gewaltritt dermaßen erschöpft, dass ich in der Nacht Schwierigkeiten habe, meine Beine zu bewegen, wenn ich mich auf die andere Seite drehen will.
  

Mit freundlichen Grüßen

Irgendwie ist es angenehm, wenn man durch ein fremdes Land radelt und spürt, dass einem die Menschen dort offen Sympathie entgegenbringen: Zu den nettesten Spielarten zählt zweifellos, wenn einem bereits die Fußgänger an der Ortseinfahrt von weitem ersichtliche Willkommensgesten entgegenbringen. Aber neben dieser „Idealform“ gibt es natürlich noch unzählige Variationen.

Grüßen wird im Verlauf unserer Reise beinahe zu einer sakralen Handlung: Es sind die Bewohner Amerikas, die unsere Abenteuerfahrt segnen. Umgekehrt scheinen aber auch viele Einheimische den Wert eines soliden Radfahrersegens durchaus zu schätzen.

Manche Leute erweisen sich dieser Art von Segen als besonders würdig – das deshalb, weil sie ihn erwidern. Und ein Gruß, der erwidert wird, gibt Auftrieb. Grüßen womöglich beide, der Autofahrer (oder Fußgänger) und der Radfahrer, gleichzeitig, dann springt von der einen Hand zur anderen ein kleiner Funke Geborgenheit und Freundschaft über. Verblüffend oft hat man dieses Erlebnis bei Fernfahrern. Abgesehen von ein paar schwarzen Schafen, die es überall gibt, teilen sie unser Leben auf der Landstraße und wissen eine freundliche Geste immer zu schätzen.

Weiters im Kreis der „Lieben“: die Jungs von der Polizei, weil sie ja doch irgendwo Recht und Ordnung verkörpern, die Beschützer der Schwachen sind und einfach deshalb, weil sie in diesem Land (zumindest nach unseren Erfahrungen) ausgesprochen nett sind. Knapp dahinter: die Straßenarbeiter – weil auch sie so ein „Straßen-Schicksal“ haben, man sich mit ihnen ganz nett unterhalten kann und sie uns öfter mal ohne Wartezeiten an ihren Baustellen und Gegenverkehrsbereichen vorbeilotsen.


Über die Autoren

Stefan & Tobi