Willkommen im Gelbsteinpark

Schild

 

Endlich der Yellowstone Park! Die Anfahrt ist traumhaft, akustisch untermalt vom lieblichen Geplätscher des Shoshone River. Und die Straße steigt wider Erwarten nur unmerklich an, eigentlich ziemlich mickrig dafür, dass dies schon die Rockies sein sollen.

Als wir kurz nach 18 Uhr den Parkeingang erreichen, erklärt uns der Ranger, dass wir bis 21 Uhr Zeit haben, den 30 Meilen entfernten Campingplatz zu erreichen. Dann ist’s nämlich dunkel, die Straßen werden gesperrt und die Bären kommen aus dem Wald (huhuuh!).

Immerhin kann niemand behaupten, dass man in Yellowstone für sein Geld nichts kriegt: Direkt nach der Maut (4 Dollar für Radfahrer) wird die Straße sofort steiler. – Wir klettern unbeirrt weiter, lassen uns Zeit und fotografieren ausgiebig die Landschaft.

Fotografieren ist irgendwie wie einkaufen: Man kann sich vor Ort in einen gewissen Rausch hineinsteigern – aber ob man das erwischt hat, was man eigentlich wollte, merkt man erst, wenn man wieder zu Hause ist.

Dann ein Schild: „Construction Area“!

Man hatte uns schon vor ein paar Tagen gewarnt: Will man um diese Jahreszeit von Osten in den Park, dann muss man mit umfangreichen Straßenarbeiten rechnen. Aber wir sind ja zäh. Und Straßenarbeiten haben wir auch schon genügend überstanden. – Hochmut und Gleichgültigkeit, in Gestalt zweier Radfahrer, dringen also unbeirrt immer weiter in den Park vor.

Tatsächlich kommt der Gelbsteinpark über uns wie die sieben biblischen Plagen. Den Anfang machen Schlaglöcher; zuerst nur ganz kleine, dann immer größere. Schließlich tiefe Krater. Dann: triefnasser Gatsch. Prompt rast ein gestresster Tourist mit seinem Van an uns vorbei – damit steht der heutige Speiseplan der Grizzlies bereits fest: „Radfahrer im Schlafrock“.

Aber das Einsprühen mit dem nassen Lehm kann ich auch selbst ganz gut. In Boston hatte ich mich aus rein ästhetischen Gründen gegen die Montage von Kotflügeln entschieden. Das bereue ich nun ein wenig.

Bei der nächsten sanften Abfahrt tauchen wir auf einmal mitten in einer Kehre aus dem Schatten des Waldes in gleißendes Gegenlicht. Im selben Moment geht die Lehmstraße in eine Schotterpiste über. Zehn Meter Waschbrett-Querrillen mitten in der Kurve. Wir klammern uns verzweifelt an den schlingernden, schlitternden Rädern fest. Als der Schotter plötzlich tiefer wird, wird die Sache dann richtig gefährlich.

Einen Kopfsprung in den Kühlergrill eines plötzlich entgegenkommenden Lkws können wir gerade noch vermeiden. Aber der Truck war bloß die Vorhut: Auf einmal wimmelt es nur so von Autos, Bussen und Lastwagen, die die gesamte Landschaft in eine dichte Staubwolke hüllen. Im Blindflug geht’s abwärts. Die nasse Gatsch-Schicht auf unserer Haut wird mit trockenem Staub paniert. An einer strategisch günstigen Stelle halten wir dann an, bis sich der Staub gesetzt hat und wir wieder bis zu unseren Zehenspitzen sehen können.

Als wir schließlich weiterfahren, sitzt auf einmal ein gutes Dutzend Gelsen auf mir. Ich überlege mir kurz, was sich wohl dagegen unternehmen ließe, dann lasse ich die Gelsen Gelsen sein: Das bisschen kalkulierter Blutzoll ist nichts im Vergleich zu dem Risiko, das ich eingehe, wenn ich mich nicht auf diese „Straße“ konzentriere.

Plötzlich haben wir so etwas wie Asphalt unter den Reifen. Lange, unberechenbare Längsrillen simulieren gefährlichen Seegang auf der Fahrbahn und wechseln sich spielerisch mit scharfkantig aufgeplatzten Bodenwellen ab.

Als sich nach einer Kurve der Yellowstone Lake vor uns ausbreitet, haben wir es endlich geschafft: Der Baustellenbereich liegt hinter uns. Aber es dämmert bereits. Wunderschön, die riesige Seenlandschaft im weichen, rötlichen Abendlicht. Links der Yellowstone Lake, rechts ein morastiger Sumpf, überzogen mit einem lilafarbenen Meer aus Blumen. Vor uns, auf der schmalen Straße, nur noch kleine Schlaglöcher. Keine große Sache. Wir rollen bei 20 mph gemütlich dahin.

Als mir eines dieser kleinen Schlaglöcher plötzlich auf meiner Spur entgegenkommt, weiche ich natürlich nach rechts aus: Auf der Kühlerhaube irgendeines zufällig überholenden Autos mag ich schließlich auch nicht sitzen. Was im Dämmerlicht wie der leicht abgeschrägte Rand jeder guten amerikanischen Durchschnittsstraße aussieht, erweist sich jedoch als loser Teer und Rollsplitt.       

Während das Rad in Richtung Sumpf abrutscht, trifft mich blitzartig die Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen kann: Instinktiv stemme ich mich dagegen. Und krache im nächsten Moment auf die Straße. Ganzkörperbremsung. – Die Handschuhe hatte ich eigentlich nur zufällig an. Das Leder ist aufgerissen. Zwei Bananen dienen als Airbag und sehen nachher aus wie Babybrei. Ein Arm und ein Knie sind aufgeschürft – das Blut versickert in der Lehmschicht von vorhin. Schaltung und Lenkstange sind verbogen, die Lampe ist abgebrochen, der Sattel aus der Verankerung gerissen.

Der erste zusammenhängende Gedanke: Schwein gehabt – nicht nur, was unsere bisherige Reise betrifft, sondern auch gerade eben. Schlagartig wird mir bewusst, an welch seidenem Faden unser Abenteuerluftschloss eigentlich hängt. Aber das Luftschloss hat den Sturz unversehrt überstanden.

Geländeprüfung, letzter Teil (hoffentlich!): Ich hab mit 1– bestanden, hatte allerdings auch Kotflügel, um das Übelste abzuwenden. Stefan sieht dafür aus wie eine Sau (bestenfalls 3+). Bei dem Sturz unten am See ist wohl selbst den Grizzlies im Wald der Appetit vergangen. – Habe selten so viele Touristen so blöd gaffen sehen.

Notdürftig wird das Rad fahrtauglich gemacht. Immerhin wird in einer halben Stunde die Straße gesperrt. Wir müssen es trotzdem schaffen. Nach wenigen Metern auch noch Schneefall – nein, kleine Fliegen. – Tausende. Die nächste Panierschicht.

Ich komme mir vor wie geteert und gefedert.

Als wir endlich den beschriebenen Campingplatz erreichen, ist er erstens voll und zweitens nur für Campingwagen- und Trailertouristen: „No tents!“ – Auch das Argument, dass wir eh kein Zelt dabeihaben und außerdem ärztliche Versorgung bräuchten, bewegt kein Rangerherz. Hier sind eben Touristenprofis am Werk und keine zart besaiteten Provinz-Eierköpfe, die man einfach mit irgendeiner fadenscheinigen Masche weich kochen kann. Also ab mit euch, Jungs. Und wehe, ihr schafft die vier Meilen zum Zeltplatz nicht, bevor die Straße gesperrt wird und es stockfinster ist, dann … – Was dann, eigentlich?

Wir hetzen weiter. Kommen sogar rechtzeitig an – nur um zu erkennen: Es gibt hier keine Duschen! Wenn wir uns waschen wollen (aber welcher normale Mensch will das schon?), dann müssen wir noch mal kurz vier Meilen die Straße runter. Da ist nämlich der Trailer-Campingplatz. Und dort gibt es Duschen – sogar warme! Aber inzwischen ist es fast schon dunkel.

Yellowstone ist zwar bildschön, aber meine schlimmsten Befürchtungen haben sich bewahrheitet: Die Organisation des Nationalparks ist auf Massentourismus ausgelegt, fahrradfeindlich und somit einfach beschissen!

Heute kann ich’s wieder: Eben noch beim Mud-Wrestling im Straßengraben, jetzt schon hier auf der Herrentoilette. Mit lauteren Absichten besteige ich ein Waschbecken, kratze einen Teil des Drecks aus den Wunden und desinfiziere mit einem Spraypflaster.

Offiziell ist auch der Zeltplatz schon voll, allerdings gibt es für so unangemeldete Typen wie uns noch ein kleines Kontingent an Rasenflächen. Wenig später zeigt man uns eine mögliche Bettstatt: Ein Fleckchen Gras direkt an der Platzstraße. Miete: 60 Dollar pro Quadratmeter (zum besseren Vergleich auf einen Monat hochgerechnet); teurer als auf der Kärntner Straße in Wien. – Außerdem kreisen Schwärme von Moskitos wie Geier über uns.

Sachliches, illusionsloses Grübeln (Motto: „Wir brauchen irgendein Dach über dem Kopf, egal welches!“) bringt schließlich die Lösung: Wir beschlagnahmen kurzerhand eine der Herrentoiletten unten am See und versiegeln die offene Schwingtür mit einem Zettel (Aufschrift: „WC geschlossen – Verwenden Sie bitte die Toilette oben am Campingplatz. – Vielen Dank!“). Auf diese Weise sind wir die Ranger, die Gelsen, lesekundige Bären und auch die blasenschwachen männlichen Touristen los. Toll!


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Stefan & Tobi