Wal, da bläst er!

Captain Ahab in „Moby Dick“

 

Sieben Uhr aufstehen, Toilette aufräumen (zwei Typen haben inzwischen trotz Klobeschriftung ihre Blase in unserem provisorischen Schlafzimmer entleert). – Wir beweisen hervorragendes Timing: Gerade haben wir unsere Schlafsäcke eingerollt und das Warnschild von der Tür entfernt, als der Häuslwart mit einem Besen bewaffnet den Tatort betritt.

Pünktlich um neun sind wir wieder auf der Straße. Als Wiedergutmachung für gestern zeigt sich der Yellowstone Park in den folgenden zwei Stunden von seiner schönsten Seite. Noch sind so gut wie keine Autos unterwegs. Ein paar Häschen huschen bei unserem Anblick verschreckt ins Unterholz zurück, ein Streifenhörnchen lässt sich dafür beim Frühstück zuschauen, und über alledem wacht, überlegen und ruhig, ein malerischer Yellowstone-See mit den atemberaubend majestätischen Schneegipfeln der Grand Tetons am Horizont.

In dem Augenblick, als ich dieses Bergpanorama am Horizont sehe, zieht sich in mir etwas zusammen. So als ob die Grand Tetons in ihrer ganzen, verschneiten, übermächtigen Pracht auf einmal in mein Herz wollten. Ich bin überrumpelt: Heimweh? Fernweh? Bevor ich richtig darüber nachdenken kann, ist es schon wieder vorbei. – Ein persönlicher, ganz intensiver Gruß von Mutter Natur …

Rechts der Urwald, Lichtungen, kleine Waldseen und uralte Bäume, deren vertrocknete Stämme in den Ästen ihrer starken Enkel hängen.

Jeden Moment erwarte ich irgendwo ein Reh, einen Hirsch oder einen Bären. Ich kann meine Augen einfach nicht vom Waldrand losreißen und lande deshalb ein paar Mal beinahe im Straßengraben.

Die berühmten Geysire beeindrucken uns irgendwie nicht besonders. Die Springbrunnenfontäne im Genfer See sieht ja schließlich auch nicht unspektakulärer aus. Von den brodelnden, kunterbunten Löchern im Boden sind wir da schon mehr angetan. (Ein Psychologe würde uns dazu wahrscheinlich etwas über männliche und weibliche Symbole erzählen.)

Dass es langsam Mittag wird, erkennt man schon an den einfallenden Touristenmassen: Ein Wohnwagen nach dem anderen taucht auf, dazu ganze Wohnautobusse mit Geländewagen im Schlepptau. Blechschlange über Blechschlange, nur um eine Wasserfontäne zu sehen: „Old Faithful“. Die alte Dame liegt, umringt von Hotels, riesigen Parkplätzen und Fress-Stationen, in einem Talkessel mit Autobahnrampen, an dessen Rand die verkohlten, grauen Baumstacheln des letzten Waldbrandes traurig aus dem Boden ragen. – Nichts wie weg!

Am Nachmittag genießen wir in einem Gebirgsbach die Vorzüge vulkanischer Fernwärme. Im Dunstkreis des so genannten „Fire Hole“ kann man sich bei erträglichen Badetemperaturen von der Strömung durch einen zwei Meter schmalen Canyon treiben lassen.

In der letzten Fahrtstunde hinunter nach West Yellowstone beginnt es leicht zu tröpfeln. Wir beeilen uns – aber der befürchtete Regenguss bleibt am Ende aus.

Als wir den Westausgang erreichen, sind wir gerade mal 24 Stunden im Park gewesen. Für uns allerdings absolut genug: Obwohl wir eine malerische Landschaft mit vielen phantastischen Naturwundern erlebt haben, können wir den geradezu apokalyptischen Bleifußtourismus in diesem Park nicht begreifen. So sind wir am Ende eigentlich ganz froh, wieder draußen zu sein.

Halt! In einem Punkt war der Park für mich doch wirklich großzügig: Ich hab im Vorbeifahren im Straßengraben einen 20-$-Schein gefunden. Lag einfach so da und lächelte mich an. Nett, dass so was immer mir passiert!

Nach 118 Kilometern erreichen wir schließlich Montana, unseren elften Bundesstaat, und die Stadt West Yellowstone. Morgen sind wir dann hoffentlich auch diese teuren, unerträglichen Touristenorte wieder los.

Ein Radgeschäft bietet „Recumbents“ (Sessel-Fahrräder) zum Verleih an. Bei einer Proberunde um den Häuserblock (diese Dinger haben echt Zukunft!) lernen wir Joe, unseren heutigen Gastgeber, kennen, der die Recumbents vermietet.

Nach den Strapazen der letzten Tage sind wir jetzt toll in Form: „Nur“ 60 Meilen pro Tag sind schon beinahe zur nebensächlichen Angewohnheit geworden. Trotzdem ertappe ich mich immer öfter dabei, dass ich über meine zurückgelassene Welt daheim, über meine Freundin und meinen Beruf nachgrübele. Außerdem freue mich schon unheimlich auf die erste Party unter Freunden, die ich gleich nach unserer Rückkehr machen möchte. – Meine Abenteuerlust scheint nach knapp zwei Monaten so ziemlich versiegt zu sein.
  

Überleben im Yellowstone Park

Die Nahrungskette: fressen und gefressen werden … – Ein Großteil der Parkbesucher konzentriert sich vor allem darauf, die Wildnis und damit ihre ungezähmten Bestien zu meiden. Doch dem Yellowstone-Radfahrer droht Gefahr von ganz anderer Seite. Ausgerechnet die Touristen sind es, die, nachdem sie eben noch auf den Parkplätzen wie Schafe hintereinander hergetrottet sind, im nächsten Moment selbst zur blutrünstigen Gefahr mutieren.

Morgenröte im Park: Während der Radfahrer auf menschenleerer Straße noch seinen kleinen Vorsprung genießt, den ihm die Nacht auf der Toilettanlage (oder sonstwo) beschert hat, wird andernorts bereits zum Halali geblasen. An den Einlass-Schranken stauen sich dutzendweise stinkende Blechkisten. Alles wartet, dass die Uhr endlich neun schlägt. Drei, zwo, eins – Startschuss!

Auch wenn Naturliebe die eigentliche Triebfeder dieser Leute sein sollte – der Radfahrer im Park nimmt doch irgendwann die Attacken abgelenkter Autofahrer persönlich und sieht sich als japsendes Beutetier, getrieben von einer übermächtigen, arglos wirkenden Jagdgesellschaft.

In Wirklichkeit sind die meisten Autofahrer aber bloß dumm. Daher besteht die wichtigste Aufgabe des Radfahrers darin, für den Autofahrer mitzudenken:     

Regel Nummer eins: Dem Autofahrer helfen, einen als Verkehrsteilnehmer wahrzunehmen. Der Pannenstreifen ist nur in wenigen Fällen so gut, dass er sich tatsächlich als Radweg benutzen lässt. Auf den meisten Straßen muss man daher auch Anspruch auf einen Teil der Straße erheben. Dazu genügt es, wenn man auf dem weißen Strich fährt, der Fahrbahn und Pannenstreifen trennt.

Regel Nummer zwei: Umverteilung des Risikos auf den Autofahrer. Auf einer schlechten oder unübersichtlichen Straße sollte man hemmungslos in der Fahrbahnmitte radeln. Die Botschaft an den heranbrausenden Lenkraddreher: Wenn du mich überholen willst, dann muss du schon die Straßenseite wechseln und dich vorher selbst überzeugen, dass kein Auto entgegenkommt. Wenn du dir nicht sicher bist: Vergiss es! Das Risiko trägst du schließlich selbst.

Regel Nummer drei: Dem Autofahrer wichtige Entscheidungen abnehmen. Hat man sich an alle bisheringen Regeln gehalten, so kann man nun nämlich selbst den Überholzeitpunkt bestimmen. Nach rechts fahren heißt: „JA, jetzt kannst du von mir aus überholen!“, und wird von nahezu jedem Autofahrer verstanden. – Auf den ersten Blick mag es zwar unlogisch erscheinen: Aber wer vor einem von hinten nahenden Auto ängstlich zur Seite weicht, gefährdet sich nur selbst.


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Stefan & Tobi