Beam mich rüber!

Tobi an Brücke

 

Am Morgen macht es uns Flori mit Eiern, Speck und selbst gebackenem Gugelhupf verdammt schwer, Petrolia zu verlassen.

Wie es der Zufall so will, findet heute Mittag im Örtchen Sarnia ein als kroatisches Vatertagspicknick getarntes Fressgelage statt, zu dem auch wir eingeladen sind. Damit ist der Plan perfekt, denn Sarnia liegt genau auf unserer Route nach Blue Water Bridge, dem Grenzübergang nach Michigan.

Drago packt kurz entschlossen sein Peugeot-Rad aus und klinkt sich in unseren Windschatten-Zweier ein. So strampeln wir gemütlich die 15 Meilen zur Stätte des kulinarischen Lasters, wo wir herzlich empfangen und mit allerlei Leckereien verwöhnt werden. Zwei Lämmer und zwei Spanferkel produzieren zudem ein ganz vorzüglich würziges Bratenfett, weshalb sich in kürzester Zeit die wahren Kenner – also auch wir – mit Brotstücken bewaffnet um die Auffangwanne postiert haben und gierig die fettige Soße in sich hineinschlürfen, als wenn’s nichts Feineres auf Erden gäbe.

Danach nützen wir die Gelegenheit, mit fettigen Fingern und Maßband unseren Reifenumfang präzise zu bestimmen (200-0-200; was für Traummaße!), um so unsere tatsächliche Kilometerleistung endlich richtig zu berechnen. Die Radcomputer müssen justiert, die gefahrenen Meilen neu eingegeben werden.

Wegen des großen Erfolges bei der Herfahrt bieten wir Drago an, mit uns doch auch noch das letzte Stück nach Frisco mitzukommen. Drago lehnt lausbübisch grinsend ab: Er würde ja gerne, aber Flori, seine Frau …

Voll gefressen und ein wenig träge erreichen wir gegen 14.30 Uhr Blue Water Bridge. Über diese hohe Brücke müssen wir kommen. Alternativen gibt es keine. Nur, an dem Brücklein wird leider gerade gebaut: Einspurig kriechender, stinkender Kolonnenverkehr in beiden Richtungen und der unmissverständliche Hinweis: „Sorry, no Bikes beyond this point!“ – also keine Räder jenseits dieser imaginären weißen Linie, die da irgendwo (völlig unsichtbar!) zwischen uns und der Brücke liegt.

Wir sind bestürzt: Für die Bauarbeiter ist es ja nur eine kleine Blauwasserbrücke, aber für uns? Wird nun etwa unsere kapitale Kontinentdurchquerung an der Bürokratie dieser miesen kleinen …

Ehe wir uns einen (einen dieser miesen kleinen…) zur Brust nehmen können, kommt Joe. Joe ist keiner von den miesen Kleinen. Er gehört zwar auch zur Aufsichtsbehörde, aber er ist ziemlich groß. Und zur Brust nehmen wollen wir ihn uns dann auch nicht, allein schon wegen seiner Größe, aber auch wegen des unmoralischen Angebots, das er uns in der Folge unterbreitet: Wenn es nach ihm geht, sollen wir unsere Räder nämlich einfach hinten auf seinen Pick-up werfen, uns daneben hocken und uns auf diese Weise mit Blaulicht am kilometerlangen Stinkestau vorbei über die Brücke nach Amerika mitnehmen lassen.

Tja. – Irgendwie bleibt uns gar keine andere Wahl: Hierbleiben, bis die ihren Umbau endlich beendet haben, wollen wir ja doch nicht. Dass wir von Boston nach Blue Water Bridge mit den Rädern gefahren sind und dort von einer unüberwindbaren Macht am Weiterfahren gehindert wurden, wird daheim niemanden beeindrucken. Aber über den Atlantik sind wir ja schließlich auch nicht gerudert. Also der Pick-up-Trick! – Im Vorbeifahren winken wir dem Volk in der Kolonne natürlich brav zu, wie sich das für einen ordentlichen Staatsbesuch gehört.

An der Grenze fragen wir nach der Fähre über den Michigansee. Doch wir kommen zu spät: Die letzte Fähre von Muskegon nach Milwaukee ist vor 28 Jahren ausgelaufen. – Verdammt. Wir hätten uns doch mehr beeilen sollen. Aber es gibt noch eine andere, weiter nördlich, von Ludington weg. Mit einem kurzen Blick auf die Karte bestimmen wir Schicksal und Route der nächsten vier Tage.

Verglichen mit Kanada ist Michigan ein echtes Irrenhaus. Lauter Wahnsinnige. – Einfach toll hier.

Die Leute in dieser Gegend wirken irgendwie ungezogener. Kanada war natürlich auch schön, auf jeden Fall europäischer. Dagegen scheinen sich die Michiganer – nun, da wir den direkten Vergleich haben – irgendwie nicht so ganz unter Kontrolle zu haben. Die Zügel hängen ein wenig lockerer; ein bisschen mehr Laissez-faire und dafür ein bisschen weniger Korrektheit.

Was noch auffällt: Viele Michiganer hupen Radfahrern freundlich zu und winken (na ja, schließlich halten die Motten aus dem uralten Mottenwitz das Klatschen auch für Applaus …). Und die Straßen haben endlich wieder „Schultern“ – also radfahrtaugliche, asphaltierte Bankette.

Am Abend reiten wir in Yale ein (nicht das Yale, irgendein winzig kleines Yale). Ein kleiner Wanderprater mit schnuckelig-einladenden Bierzelten ist in der Stadt. Wir suchen uns eine Tür aus, die möglichst nahe an den Bierzelten liegt, und läuten daran. Als sich die Tür öffnet, steht auf einmal Donna vor uns: Nicht Donna Lonso, wohlgemerkt (die aus der Ildefonso-Werbung), sondern Donna Worton.

Donna ist eine lokale Zelebrität: Sie ist Mutter von fünf Kindern, hat daneben ein Dutzend Geschwister und mindestens ebenso viele Enkel; vor allem aber ist sie die Tochter des weltberühmten „A&W“-Rootbeer-Erfinders (das „W“ steht für „Worton“, erklärt sie uns). Als sie fassungslos mit anhören muss, dass wir noch nie in unserem Leben Rootbeer (irgendein alkoholfreies Wurzelgebräu) getrunken haben, schleift sie uns in ihr Fastfood-Restaurant (ebenfalls „A&W“) und drückt uns zwei monströse Hamburger und zwei Riesenbecher Rootbeer in die Hand. („Wenn ich mal in Wien bin, könnt ihr ja mich einladen.“)

Anschließend präsentiert sie uns das Programm für die nächste Woche: Heute Nacht können wir natürlich bei ihr bleiben. Aber morgen, da hat sie genau auf unserer Route ein paar Geschwister leben. Übermorgen ist dann die Tante dran und danach der Cousin … – Am liebsten würde uns Donna bis San Francisco bei all ihren Verwandten und Freunden unterbringen. Doch wir sind bescheiden: Für heute reicht es uns, in Yale eine trockene, moskitofreie Bleibe zu haben.

Treffsicher konfrontiert uns Donna mit den zwei intelligentesten Fragen, die uns bisher gestellt wurden: Ob wir diese „Hetzerei“ mögen, oder ob wir nicht lieber länger an einem Ort bleiben möchten, um mehr Tiefenschärfe zu bekommen. Und ob bei so vielen Eindrücken nicht einiges wieder verloren geht.

Donna bringt mich auf eine tragende Theorie. Kühn behaupte ich, an einem Ort länger zu verweilen wäre so, als würde man versuchen, einen Film anhand der Einzelbilder zu betrachten. Amerika ist Film. Unsere Reise ist Film: Die Wahrnehmung des Unterschiedes, die Abfolge aller Szenen ist es, was den Reiz ausmacht. Irgendwo zu bleiben wäre sicher auch ganz nett. Aber das ist eine andere Reise, ein anderes Medium, sozusagen. Natürlich fühlen wir uns manchmal überfordert. Aber das ist in Ordnung. Von Anfang an war uns klar, dass unsere Tour zu einem Abenteuer werden könnte, dem wir möglicherweise nicht gewachsen sind.

He, Radfahren macht auch noch philosophisch!

Die Hamburger sind verdrückt und in einem dunkelroten Rootbeer-See versenkt, der glucksend und blubbernd die Magenwände hinaufschwappt, während wir auf unseren Rädern in der Dunkelheit hinter Donnas Auto her zu unserem neuen Schlafplatz eilen.

Einfach geil: Donnas Sohn hat sich für Sommerpartys ein lauschiges Landhaus hergerichtet (das er mit beinahe britischem Understatement „Scheune“ nennt). Da sitzen wir nun mutterseelenallein an der Bar, schlürfen hingebungsvoll Whisky-Cola und glauben – gelinde gesagt – zu spinnen. Donna hat uns mit einer Adresse von Bekannten in Ludington („Muss irgendwo auf eurem Weg liegen“) versorgt und außerdem Eier, Speck und Brot sowie eine selbstheizende Elektropfanne (was es in Amerika alles gibt!) zu unserem Frühstück beigesteuert.

Den restlichen Abend hüpfen wir im Disco-Licht ausgelassen durch das leere Partyhaus, spielen Darts und hören Rolling Stones aus vollen Rohren.

Morgen vor dem Frühstück werde ich wohl, wenn mich danach gelüstet, noch ein Ründchen durch den See vor der Tür schwimmen.

Spätabends bekommen wir dann noch unerwarteten Damenbesuch von der Nachbarfarm: Es ist die Kellnerin vom Hamburger-Restaurant! Kurzfristig schlägt der Puls höher, die Nackenhaare richten sich auf … – Aber Jenny (so verkündete ihr Namensschild) will offenbar wirklich nur schauen, ob’s uns gut geht. So sind wir schließlich fast ein wenig enttäuscht. Aber nur ein winzig kleines bisschen.

Nett ist’s trotzdem, dass sie vorbeigeschaut hat. Und so fürsorglich.

Ein lang befürchtetes Problem hat sich von selbst erledigt: Obwohl uns heute dank Schönwetter unser Hauptargument für ein Dach überm Kopf (Regen und Sturm) abhanden gekommen ist, geht es uns trotzdem nicht wirklich schlechter: Nun winseln wir eben um Gnade vor tödlichen Moskitoschwärmen.

Für die Statistik: 1500 Kilometer bis heute Abend.


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Stefan & Tobi