Hot! Hot! Hot!

Aaaah, Pepsi …

 

Nur noch eine Woche bis Kalifornien! – Zur Feier des Tages gibt’s heute im Nachbarhotel mal wieder Pancakes zum Frühstück.

Meine Kondition muss heute nacht Frost abgekriegt haben, ansonsten gelingt die Etappe aber ganz gut.

Wunderschön, diese Abfahrt von Stanley, ringsum eine märchenhafte Waldlandschaft und dann die unglaubliche Strecke entlang des South Fork Payette River, der sich vom Berg herab in eine schmale, tiefe Schlucht hineinwindet. Nach 24 Meilen machen wir, erschöpft von all diesen traumhaften Aussichten, eine Pause an einem der vielen Bächlein. – Eigentlich sieht es hier sehr nach einem hervorragenden Raftingrevier aus!

Ein leiwander Tag: Ganz schön ungewöhnlich für mich und Idaho! Malerisches Panorama, kein Vergleich zu dem Touristen-Trampelpfad um Sun Valley; außerdem geht’s die meiste Zeit bergab.

Auf der ganzen Etappe sind wir von hohen Bergen umgeben, und bis zuletzt schwingt die Angst mit, dass wir am Ende einen von ihnen noch einmal hinaufklettern müssen. Aber der Payette River bleibt treu und ergeben neben der Straße: Wenn er aus diesem Talkessel wieder herausfindet, dann müssen wir’s wohl auch irgendwie schaffen …

Links und rechts der Route sind immer wieder Wegweiser zu heißen Quellen aufgestellt. – Fatalerweise machen wir uns etwas später auf die Suche nach einer von ihnen. Wild entschlossen strampeln wir einen endlosen, staubigen Pfad hinauf. – Hotsprings finden wir trotzdem keine. Also alles wieder retour und zurück auf die Hauptstraße.

Als der Berg nach unten hin etwas flacher wird, sehen wir zum ersten Mal in unserem Leben Kolibris in freier Wildbahn. Unglaubliche Viecher …

Wenig später erreichen wir Lowman, einen Ort ohne Klo. Toll! Dafür haben wir uns also die letzte Stunde zurückgehalten. Wir lösen unser kleines Problem mangels anderer Möglichkeiten im Straßengraben und duschen unter einem Wasserfall, der sich malerisch von einer Felskante in den Fluss ergießt. – An der Imbissstube von Lowman treffen wir einen Mann, der mit seiner Freundin nach Florida radelt. Er hat die vergangene Nacht in Garden Valley hinter einer Schule verbracht und empfiehlt uns, dasselbe zu tun.

Garden Valley liegt immerhin auf unserer Strecke. Die Straße dorthin wurde zwar erst vor ein paar Jahren asphaltiert, trägt aber bereits wieder die Zahnabdrücke der naturgewaltigen Sawtooths, die sie offensichtlich in einen Schotterweg zurückverwandeln wollen. Scharfkantige Kerben von herabfallenden Felsbrocken in der Fahrbahn; der Radhelm wäre hier bei Steinschlag wohl nur für die Lebensversicherung von Bedeutung.

Kurz vor Garden Valley stoßen wir völlig unvermutet auf Hotsprings direkt am Straßenrand. Das Ganze sieht so gemütlich aus, dass wir beschließen, Cola und Chips zu kaufen und anschließend wieder hierher zurückzukehren.

Wenig später höre ich unmittelbar hinter mir ein dumpfes Geräusch – wohl von dem Wagen, der Sekundenbruchteile danach an mir vorbeirast. – Ein paar hundert Meter weiter hält mich ein anderer Autofahrer an: Er hat beobachtet, wie mich jemand mit seiner geöffneten Beifahrertür von der Straße fegen wollte, und möchte nun wissen, ob ich deswegen Anzeige erstatten will. Dass er sich dafür als Zeuge zur Verfügung stellen würde, ist eine äußerst nette Geste. Aber ob es wirklich ein bösartiges Attentat oder nur ein übler Scherz war, kann der Mann auch nicht mit Sicherheit sagen. – Nach dem ersten Schrecken beschließe ich, die Sache auf sich beruhen zu lassen, und versuche mich mit dem Gedanken zu trösten, dass wir hier sowieso nie wieder per Rad vorbeikommen werden.

Die Suche nach Chips und Cola hat jedenfalls schon bald ein Ende. Drei Meilen später und etliche Höhenmeter die Straße hinunter geben wir unseren ursprünglichen Hot-Spring-Plan auf und fragen stattdessen an einem der straßennahen Häuser nach Unterkunft. Der Besitzer schickt uns daraufhin weitere drei Meilen die Straße hinunter, in einen Ort namens Crouch. Dort soll es ein Restaurant mit einem kleinen Apartment geben, in dem gelegentlich Live-Bands wohnen. Da, so versichert er, würde man uns bestimmt umsonst übernachten lassen.

Das erwähnte Restaurant – „The Dirty Shame“ – braucht sich wirklich nicht zu verstecken: Als wir ankommen, ist das Gästezimmer zwar gerade an eine Band vermietet, dafür sind wir mit unseren olympischen Jerseys bald der Auslöser für ein Dutzend halblustiger Atlanta-Witze, und die gesamte volltrunkene Barbesatzung biegt sich dankbar vor Lachen. Dementsprechend wenig Mühe hat der liebenswürdige Barkeeper auch, uns an seine Kundschaft zu vermitteln, und in kürzester Zeit können wir zwischen zwei Angeboten wählen. Der Pensionist Rocky und seine Frau erhalten schließlich den Zuschlag: Rocky lädt uns noch auf ein ganz hervorragendes Abendessen ein und chauffiert uns nachher per Pick-up sieben Meilen entlang des Middle Fork Payette River einen Berg hinauf (toll, auf unserer Karte sind weder Straße, Fluss noch Berg eingezeichnet). Da oben wohnen Rocky und seine Frau also im wunderschönen grünen Nichts. Wir bekommen ein eigenes Schlafzimmer zugewiesen und schaffen es dann sogar, uns an dem spielwütigen, zehn Monate alten Riesenschäfer-Welpen „Shadow“ vorbei ins Bett zu kämpfen.

Crouch, Idaho! Ein Nest, das gerade mal auf der Karte zu finden ist, in Rand McNally’s Einwohnerverzeichnis dagegen schon nicht mehr. Nach Pine Planes der zweite Ort in Amerika, an dem ich wirklich gerne wohnen würde. Gelegen in einem wunderschönen Tal am westlichen Ende der Sawtooths. Ruhige Bächlein, Kühe, Berge, einfach Idylle zum Durchatmen.
  

Beliebigkeit

Lethargie kommt auf. Fast zwei Monate sind wir inzwischen auf der Straße – eine Zeitspanne, gegen die sich der einzelne Tag längst klein und unbedeutend ausnimmt.

Was um uns herum passiert, verliert an Tragweite; die einzelnen Etappen verschwimmen. Ein allmählicher Verlust der Zusammenhänge ist die Folge und das unbestimmte Gefühl, dass sich die Reise langsam in ihre Bestandteile auflöst: Was für eine Bedeutung hat denn aus heutiger Sicht das, was wir am Beginn dieser Reise getan haben? – Können wir uns daran überhaupt noch erinnern?

Erinnerungen spuckt das Unterbewusstsein aus wie Träume – bunte Seifenblasen, die auf der Kante zwischen Phantasie und Wirklichkeit balancieren. Doch ist der Unterschied zwischen Realität und Einbildung am Ende überhaupt noch wichtig? Was macht es jetzt noch aus, ob wir einen Ort tatsächlich besuchen oder uns stattdessen hinsetzen und gemeinsam irgendein Erlebnis herbeiphantasieren?

Bei so viel Spielraum macht sich Resignation breit. Und Gleichgültigkeit. Wozu noch eine Abfahrt fotografieren, wenn wir doch die spektakulärsten Berge bereits im Kasten haben? Nur um zu beweisen, dass wir dort waren? Dass wir, trotz der Größe dieses Landes und der Schärfe der Sonneneinstrahlung, noch nicht übergeschnappt sind?

Fast muss man sich zwingen, die Dinge trotzdem zu erleben. Einfach so. Spaß zu finden an dem einzelnen, zufälligen Ereignis. So wie ganz zu Beginn. – Doch der Schlüssel dazu liegt längst woanders: nicht mehr in der kindlichen Begeisterungsfähigkeit des Anfängers, sondern – im Gegenteil – in der Übersättigung oder, besser, in der zufriedenen Sattheit, die uns noch einmal den Blick fürs Detail öffnet.

Und schließlich bröckelt auch das Heldenhafte langsam ab. Nach innen. Es fällt schwer, auf etwas stolz zu sein, das einem inzwischen so selbstverständlich und alltäglich geworden ist.

Stattdessen fragen wir uns, wie es wäre, wenn da draußen noch einmal 3000 Meilen warteten. Vermutlich anders. Etwas Endzeitstimmung liegt schon in der Luft: Endlich „da” sein. In Kalifornien, dem Ziel der Reise. Mist. Dabei wollten wir das nicht aufkommen lassen. „Für den Augenblick leben“ war das Motto. Haben wir das noch immer nicht gelernt? Oder wieder verlernt?

Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass wir zu viel wissen. Hätten wir keine Vorstellung von der Größe dieses Landes, wäre es wahrscheinlich besser. Aber irgendwo dort draußen wartet ungeduldig der Pazifik auf uns. Und das ist aus unseren Köpfen nicht mehr wegzubringen.


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Stefan & Tobi