The coldest winter I ever spent was a summer in San Francisco.

Mark Twain

 

Tag X. In der Nacht hat Dirks Mischlingswelpe wie verrückt geplärrt (zum Erwürgen!). In der Früh lernen wir dann auch Dirk selbst kennen. Bis zur Brücke sind es höchstens 15 Meilen, erzählt er uns. Tatsächlich werden es nur noch elf sein.

Als wir unsere Räder vor die Haustür schieben, ist es saukalt. Ein Tag, um im Bett zu bleiben. Wozu sind wir hier überhaupt hergekommen? So schön warm hatten wir es unterwegs (zum Beispiel in der Wüste von Oregon). Der Nebel hängt noch immer dicht über der Straße; auf Mt. Tamalpais sieht es aus wie in einem türkischen Bad, nur ist es leider nicht so warm. Trotzdem versuchen wir, die Abfahrt ins Tal so schnell wie möglich hinter uns zu bringen, schon deshalb, weil wir nicht hinterrücks von allzu vielen Autos überfahren werden wollen. Die Räder scheppern und knarzen wie nie zuvor. Werden sie wirklich bis zur Brücke halten?

Nachdem Stefans hintere Felge tatsächlich langsam auseinander reißt, mach ich mir ein bisschen Sorgen, dass er irgendwann ungebremst und laut schreiend an mir vorbeischießt.

Wir erreichen Mill Valley, wo wir in Form von Bagels mit Cream Cheese ein letztes Galgenfrühstück zu uns nehmen. Danach geht’s auf einem holprigen Radweg entlang der viel befahrenen Einzugsstraße durch salzig-matschiges Sumpfland in Richtung Golden Gate. In dicken Schwaden zieht auf einmal intensiver Meergeruch über die Straße.

Können die denn keinen ordentlichen Radweg hier hinbauen? Was, wenn mein Rad auf den letzten Metern doch noch eingeht?!

Noch sind wir nicht da. Der letzte Hügel, eine letzte Steigung. Auf dem Gegenhang sieht man die vierspurige 101. Und da – da versteckt sie sich hinter einem Berg. Wie ein albernes Monster lugt sie aus dem Nebel hervor. Godzilla – nein, die Golden Gate Bridge.

Endlich! Im Nebel die ersten blassen Pfeiler unseres lang ersehnten Ziels. Ein Bild, das mir jedes Mal leuchtend orange durch den Kopf gegangen ist, wenn ich mich auf einer besonders langen Steigung in den Lenker gekrallt, im strömenden Regen gegen den Wind oder einfach gegen meine eigenen Zweifel oder meine Ungeduld gestemmt habe.

Erleichtert fallen wir einander in die Arme. Aber so richtige Champion-Stimmung will nicht aufkommen. – Vielleicht fehlt ja nur die passende Musik. Alles läuft viel profaner ab, als ich es mir gewünscht hatte: kein Mautticket, weil Radfahrer gratis fahren dürfen (sonst drei Dollar). Eine Horde Mexikaner, die auf dem Plateauparkplatz vor der Bucht lautstark Souvenir-T-Shirts verkaufen. Und eine Brücke mit Plakateffekt: Je weiter weg, desto schöner.

War das das Ziel? Ich habe es nicht begriffen, begreife es noch immer nicht. – Über die Bucht fahren wir trotzdem.

Schmucklose letzte Minuten. Kälte, Feuchtigkeit, Pendlerverkehr, Fußgängerhorden, das Ortsschild von San Francisco mitten auf der Brücke – das war’s. Wir sind da.

Die Gedanken und Anstrengungen der letzten 67 Tage sind Geschichte. Einfach so. Ein großer Schritt für uns – aber für die Menschheit? Niemand bekommt es mit. Zu viel Lärm hier. Niemand fragt uns. Warum auch? Insgeheim sehne ich mich zurück. Nach Iowa. Oder Wyoming.

Es ist alles so anders, als ich es mir vorgestellt habe. Auf Eskimo Hill, da hatte ich noch Emotionen. Hier ist es dafür zu kalt. Ob die Reaktion noch kommen wird? Irgendwann vielleicht. Nicht heute. Ich habe alles verdrängt – ich kann es nicht fassen, nicht einmal darüber nachdenken.

Glücklicherweise haben wir den ganzen Tag Zeit, uns ein Quartier für die Nacht zu suchen. Zu den üblichen Problemen kommen hier nämlich noch zwei neue dazu. Erstens: Wir sind in einer Metropole mit mehr als einer halben Million Einwohnern. Das heißt, wir sind nicht die Einzigen in dieser Gegend, die nachts gern ein Dach überm Kopf hätten. Zweitens: Wir hatten eigentlich vor, ungefähr eine Woche in dieser Stadt zu bleiben und nicht gleich morgen wieder dem Leitfaden irgendeiner neuen Mission nachzulaufen. Es gibt keinen Faden mehr. Und die Mission heißt: entspannen, erholen und einfach zufrieden mit sich selbst sein.

An der Brückenabfahrt treffen wir Jesse, den Schriftsteller. Als wir ihm unsere Geschichte erzählen, bietet er uns spontan an, bei ihm zu wohnen: Am Freitag fliegt er nach New York, aber bis dahin sind es ja noch zwei Tage … – Das Glück bleibt uns also auch am Ende unserer Reise hold.

Nun, da wären wir also. Das schäbige Heft, in das ich während der letzten zwei Monate meine Tagebuchaufzeichnungen gekritzelt habe, ist voll. Stefan und ich sitzen am Fisherman’s Wharf in einer wunderschönen Wohnung im zweiten Stock eines Altbaus und versuchen – jeder für sich – das hinter uns liegende Abenteuer zu verdauen.

Die Gedanken schweifen ab: Früher hab ich in genau so einem Heft meine Mathe-Hausübungen gemacht und fast ein halbes Jahr gebraucht, um es zu füllen. Meine Ziele und Perspektiven von damals waren vernünftig und bodenständig, stammten aus einer anderen Dimension. All das ist noch keine acht Jahre her, und jetzt bin ich einfach so durch Amerika geradelt. Verrückt! Aber eine ungeheure Befriedigung.

Manchmal frag ich mich allerdings: warum? Und warum beneiden uns so viele Leute um diese zweimonatige Spinnerei? Was man auf so einer Reise gewinnt, kann doch keiner von außen sehen. Das ist nicht wie ein Porsche oder ein Pelzmantel oder eine Villa auf dem Land oder was der Mensch sonst so gerne besitzt und herzeigt. Was man auf so einer Reise findet, ist ein stiller Schatz, der einen ein Leben lang in jener Truhe mit den wertvollsten Erinnerungen des Lebens begleitet.

Jetzt, wo alles noch so frisch ist, ist es eigentümlich schwer zu begreifen, dass dieses trockene Gemisch von 68 Tagen, ein paar hundert Menschen, Schmerzen, Schweiß und 6683 Kilometern so etwas Legendäres ergibt wie die Durchquerung eines Kontinents mit dem Fahrrad: Die Leistung wird wohl erst mit der Zeit für den, der sie vollbracht hat, zu einem Denkmal; einmalig und unwiederholbar.

Ein wenig fürchte ich mich vor dieser Erkenntnis: Gerade scheint die Welt noch so schön klein, so fassbar, so „radelbar“, und das große Amerika steckt wertvoll und unsichtbar in einer Hosentasche meiner verwaschenen Jeans wie eine Goldmedaille für Lebenskunst. – Wann immer ich in meinem späteren Leben in diese Stadt zurückkommen sollte, wird mich diese Brücke an das makellose Glücksgefühl der letzten Stunden erinnern.

All die Symbole, die uns zwei Monate lang vorwärts getrieben haben, liegen jetzt – im Kopf wie auch geographisch – hinter uns: die Brücke, das Goldene Tor, das Ziel. Was vor uns liegt, ist eine Stadt, die nicht mehr mit unserer Reise zu tun hat, als dass sie den Namen des Ziels trägt: San Francisco. – An Cablecars vorbei radeln wir durch die legendären Straßenschluchten, quer durch Chinatown und über den Fisherman’s Wharf an der Insel Alcatraz entlang. Frisco ist inzwischen als Endpunkt unserer Reise entzaubert. Was bleibt, ist ein Hauch von Erhabenheit und Exotik und die entfernte Ahnung, diese wunderschöne (etwas kühle) Stadt per Rad erreicht zu haben. (Wie viele europäische Touristen können das schon von sich behaupten?)

Vor der Reise war gerade das eine meiner größten Ängste: Mit dem Fahrrad nach San Francisco zu kommen – und auf die Reise zurückblicken zu müssen. Dieser scheinbar irrationale Gedanke taucht nun plötzlich wieder in mir auf: Die letzten Wochen und Monate waren einfach eine wunderschöne Zeit – die Tatsache, dass sie nun vorbei ist, ist nur schwer zu verwinden. Was bleibt, ist ein Gefühl der Leere.

Den restlichen Tag bin ich ziemlich schweigsam. Wenn ich über etwas spreche, dann nicht „darüber“. Vielleicht brauche ich etwas, um die Spannung zu lösen. Vielleicht hätte man ans Ende dieser Straße eine Frau stellen sollen und keine Brücke. Im Geiste bin ich noch immer unterwegs. Verstanden habe ich überhaupt nichts – nicht einmal jetzt, da die Brücke schon längst hinter uns liegt.

Am Nachmittag sehen wir uns Fisherman’s Wharf an. Wir kaufen Postkarten, vertreiben uns die Zeit mit den neuesten Videospielen, essen zunächst mexikanisch und schließlich amerikanisch (Burger und Fries). Dann wird es so kalt, dass wir wieder nach Hause gehen, um bei einer heißen Tasse Tee mit Jesse zu plaudern.

Jesse (seine Familie ist 1938 aus Hamburg eingewandert) war bei einer Werbefirma beschäftigt, bevor er sich Novellen und Drehbüchern zuwandte. Heute sind es aber vor allem wir, die eine Geschichte zu erzählen haben.

Diese 68 Tage sind etwas zu Großes, um es ganzheitlich zu betrachten. Aber mir fällt keine andere Sichtweise ein, um damit fertig zu werden. Jesse, der Drehbuchautor, weiß, was ich damit sagen will: „Eure Reise ist wie ein schlechter Film“, erklärt er mir. „Was euch fehlt, ist ein Anfangspunkt, eine Mitte und ein definitives Ende.“ – Ich bin überrascht, dass er das so gut versteht. Tatsächlich war nicht San Francisco, sondern der Weg das Ziel. Und an den Anfang kann ich mich schon fast nicht mehr erinnern.

Ich beende meine Tagebuchaufzeichnungen mit dem zufriedensten, ausgeglichensten Gefühl, an das ich mich erinnern kann, und der unüberhörbaren Sehnsucht, bald nach Hause zu Freunden und Familie zurückzukehren. In den letzten zwei Monaten habe ich unheimlich viel gelernt. Vieles wird mir selbst nicht bewusst werden, mit Sicherheit aber meinem Leben eine neue Richtung geben.


Über die Autoren

Stefan & Tobi