Buy a Harley!

Kreischende Frau aus fahrendem Auto

 

Endlich, wir haben den zweiten Gang gefunden! – Um 11 Uhr liegen die ersten 30 Meilen jedenfalls bereits hinter uns. Zwischen Zeige- und Mittelfinger von New Yorks seltsam geformten „Finger-Lakes“ zischen wir gegen Nordwesten auf Niagara Falls zu. – „Niagara“: Noch wissen wir nicht einmal, wie man dieses Wort wirklich ausspricht, weshalb wir immer um den heißen Brei herumnuscheln, wenn wir es in Gegenwart von Einheimischen verwenden müssen. Erst viel später erfahren wir, was jedem anständigen Amerikaner bereits als Kind in die Wiege gelegt ist: Dass es nämlich nicht „Nie a Gara“, sondern „Nai Jägära“ heißt! – Ein alpenländischer Weidmann hätte damit sicher seine Freude …

Die vergangenen Tage haben deutliche Spuren hinterlassen: Die unerwartet heftige Sonneneinstrahlung brandmarkt uns mit einem patriotischen Farbenspiel (linke Körperhälfte rot, rechte Körperhälfte weiß), während der Sunblocker wirkungslos in der Mittagsglut verpufft, und macht uns, wann immer es nur geht, zu Schattenwesen, zu Kreaturen also, die möglichst oft und möglichst regungslos im Schatten herumsitzen. Unsere ungewohnt ökologische Fortbewegungsart bewirkt auch eine „Ökologisierung“ des Verdauungssystems: Biogas, ungefiltert und schwefelhaltig, entweicht den durch dauerhaftes Gewippe aus dem Gleichgewicht gebrachten Brennkammern und treibt uns – ganz nach dem Rückstoßprinzip – energiesparend vorwärts.

Trotz der Gewissheit, reine Natur zu erfahren, wird dadurch das Windschattenfahren für den Hintermann zur Qual. Immer wieder atemberaubende Momente, die zum Nachdenken anregen. (Waren es die Hamburger, die vielen Zwiebeln oder doch die ungezählten Gallonen Cola? Und wenn Cola, war es das Pepsi oder das Coke? Außerdem: Hat man dasselbe gegessen wie der andere? Wirkt ein „Chili-Burger“ genauso wie ein „Veggie-Burger“? Und wenn, warum riecht’s dann nach verwestem Knoblauch? – Ach, es gibt ja so vieles, über das man beim Radeln grübeln kann …)

Trotzdem beginnen wir unsere neue Freiheit zu genießen. Infantile Spiele und Wetten entwickeln sich, wie: „Tote-Stinktiere-Zählen“ oder „Geht Route 79 nach dieser Bergkuppe nach rechts unten oder links oben weiter?“

Stefan verliert diese letzte Wette und fährt vor lauter Enttäuschung über die Niederlage und das verlorene Bier beinahe in den rechts unten angrenzenden Acker.

Ich hätte nie gedacht, dass ich den Text von so vielen Liedern kann. Aber wenn man so durch die Landschaft radelt, hat man fast immer ein passendes Liedchen auf den Lippen. Vermutlich, weil es keiner hören kann; so summt man wie ein defekter Radiowecker vor sich hin. Melodien kommen und gehen wie der Wind (Fahrt-, nicht Darmwind), und meistens wird auch die Assoziation, die zu dem Lied geführt hat, bald klar. Ich singe oft in diesen Tagen. Eigentlich ein gutes Zeichen.

Endlich gelingt es mir, mich gegen die psychische Versumpfung durch endlose Geraden mit ewigem Horizont zu wehren: Ich starre einfach nach unten auf das Vorderrad und achte nur darauf, dass es immer zehn Zentimeter rechts von der Pannenstreifenlinie bleibt. Alle zwei Minuten suche ich die nächste Meile nach störenden Kadavern („Roadkill“) und Schlaglöchern ab und male mir die Verwirrung der entgegenkommenden Autofahrer aus, die statt meines Gesichtes nur die Oberseite meines Helms zu sehen bekommen: Ein neues Schutzvisier gegen Riesenmoskitos? Ein blinder Radfahrer, der nach Gehör strampelt? Oder doch Jim Carrey, der für den Film „Die Maske“ trainiert?

Apropos „Roadkill“: An diesem Nachmittag bahnt sich die Entdeckung einer zoologischen Sensation an. Die Straßenerscheinung, die die Amis kurz und treffend als Badger bezeichnen, kommt in der Natur offenbar nicht nur als übel riechende Flade vor. Nein! Denn mit eigenen Augen haben wir heute erstmals eines dieser biberähnlichen Viecher (zu Deutsch: Beutelratte? Opossum? Gürteltier? Marsupilami?) dreidimensional und quicklebendig im Gebüsch verschwinden sehen!

Und dann war da noch Pater Harley, der uns am Ende dieses regenfreien Tages ohne mit der Wimper zu zucken die ganze Volksschule von Geneva für eine Nacht zur Verfügung stellte (weil gerade Samstag war): ein wahrlich himmlischer Mann mit einem sehr irdischen Namen.

Mit diesem stattlichen Quartier im Rücken schwärmen wir in der Dämmerung gut gelaunt aus, um uns ein Abendessen zu organisieren. Ein anständiges, wohlgemerkt. Und wir werden fündig: Das Lokal der Wahl nennt sich schlicht „The Cookery“ und bietet alle Arten von syrischen und libanesischen Broten feil, kulinarische Leckerbissen des Mittleren Ostens, Griechenlands und – weil das ja irgendwie auf der Linie liegt – Mexikos. Von einer Virtuosin namens Amelia zubereitet und aufgetischt: wirklich deftig und lecker – ordentliche Wiener Küche, sozusagen.


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Stefan & Tobi