Fields of Gold

Sting

 

Ahnungslos und verschlafen kriechen wir heute kurz nach sieben Uhr aus unseren Schlafsäcken. Was wir zu dieser Zeit noch nicht wissen: Das frühe Aufstehen wird sich lohnen, auch wenn wir Ted, dem Pastor, in diesem Moment noch eher gemischte Gefühle dafür entgegenbringen, dass er uns trotz des mitternächtlichen Schachmassakers für 7 Uhr 30 zum Frühstück in sein Haus bestellt hat.

Aber Debbie, eine Bäuerin im 600-Seelen-Dorf Thompson, wird sicher nicht den ganzen Tag vor jener Bar an der staubigen Hauptstraße auf uns warten, nur um zu einer der Schlüsselfiguren unserer Reise zu werden. Schließlich ahnen zu diesem Zeitpunkt weder sie noch wir etwas von unserem gemeinsamen Schicksal.

Wir brechen also verhältnismäßig früh auf. In die knochentrockene, glühende Mittagshitze geraten wir trotzdem. Iowa zeigt sich zwar von seiner schönen Seite (wolkenloser Himmel, saftiggrüne Mais- und Sojabohnenfelder), aber wenn man bei 96 Grad Fahrenheit ohne das geringste Lüftchen (außer dem mühsam erkämpften Fahrtwind) auf dem Sattel verglüht, nützt das nicht viel.

Als unser Verlangen nach Schatten immer größer wird, beginnen wir nach einem Mittagsrastplatz und etwas zu essen Ausschau zu halten. So erreichen wir ungefähr um halb zwei das kleine, auf den ersten Blick eher hässliche und unscheinbare Örtchen Thompson. (Ob hier die berühmten Gazellen gemacht werden, konnte uns niemand beantworten.) Von den 600 Einwohnern lässt sich zunächst nur ein Traktorfahrer blicken, der uns dankenswerterweise darauf aufmerksam macht, dass Thompson nicht bloß aus einer Tankstelle besteht und der Kornsilo an der Bundesstraße nicht die einzige Futterquelle ist. Er weist uns den Weg über einen staubigen Schotterpfad auf die „Main Alley“ des Ortes. Und so nimmt das Schicksal seinen Lauf.

Die Hauptstraße sieht aus wie aus einem schlechten Western: sandig und breit, mit zwei langen Häuserzeilen zu beiden Seiten. Geschafft, nass geschwitzt und angestaubt finden wir ein geöffnetes Lokal und zelebrieren dort eine ausgiebige Mittagspause.

Ein Blick in die Reisekassa enthüllt, dass unser Bargeld schon etwas knapp ist (und eine Rückfrage bei der Kellnerin enthüllt, dass sie unsere Kreditkarten nicht will). Während Stefan in seiner gewohnt langsamen Art fertig isst, bringe ich daher schweren Herzens meinen letzten Travellerscheck zur örtlichen Bank. Als ich zurückkomme, hat Stefan inzwischen mit der Kellnerin angebandelt und fasziniert sie durch gleichgültiges Herunterbeten unserer Heldentaten, während er sich die letzten Salatreste aus den Zahnlücken kratzt.

Keine fünf Minuten später (in Thompson verfügt man offenbar über telepathische Kommunikationswege) fangen uns zwei Ladys beim Verlassen der Bar ab. Eine ist Redakteurin beim „Thompsoner Kurier”, die Fragen stellt allerdings die andere: Debbie, der man selbst bei geschlossenem Mund (ein seltener Fall) von weitem ansieht, dass sie ein extragroßes Herz haben muss, eine wirkliche „Mutter für alle“.

Während Debbie uns über alle möglichen Details unserer Reise ausquetscht, beginnen wir zu ahnen, dass diese Fragestunde unter Umständen angenehme Konsequenzen für uns haben könnte. Mit einem kurzen Grinsen klären wir untereinander ab, dass die mörderische Hitze unseren Radeldrang für heute durchaus gestillt hat (obwohl wir noch keine 80 Kilometer geschafft haben).

Zur Belohnung fürs Stillsitzen (die andere Frau ist scheinbar auch noch Pressefotografin) und die gekonnte Selbstdarstellung (es gibt schließlich nichts, was wir lieber täten) dürfen wir dann gratis ins örtliche Schwimmbad. Debbie scheint auch die Ziehmutter des Mädchens an der Kasse zu sein („Hi, these boys are gonna go in for free!“) – auf alle Fälle ist jeder Widerspruch zwecklos. Heidi und Brandy, die beiden langbeinigen Bademeisterinnen (hier sagt man natürlich smart „Lifeguards“ dazu), wachen in der Folge geradezu liebevoll über unser kostbares Leben, während wir uns todesmutig in das tosende Schwimmbadwasser werfen.

Debbie bewirtet und füttert uns. Stolz zeigt sie uns ihren riesigen Bauernhof, ihre endlosen Maisfelder, ihren gigantischen Traktor (mit dem man wohl auch in die Schlacht ziehen könnte) und das Haus ihres Sohnes Mike, der uns – wie sie jetzt schon weiß – gerne für die Nacht beherbergen wird. Während wir Mike ein bisschen kennen lernen, wäscht sie unsere Sachen und verspricht uns ein Abendessen im besten Steakhouse von ganz Amerika, im „Branded Iron“.

Vor lauter Freude über das bevorstehende Gelage vergesse ich meinen Reisepass auf der Farm. Nicht einmal Debbie, die sonst alles schafft, kann den Barkeeper davon überzeugen, dass ich mit meinen 25 Jahren nun auch schon gelegentlich ein Bier trinken darf. Mike fährt mit mir den ganzen Weg zurück, um den Pass zu holen, nur damit ich heute abend nicht mit trockener Zunge an meinem „Rib eye“ herumwürgen muss. Der Mann weiß halt, was im Leben von Bedeutung ist.

So sehr wir unser Gedächtnis auch bemühen: Die Steaks im „Branded Iron“ sind mit nichts zu vergleichen, das uns je zwischen die Zähne gekommen ist (weich wie Nacktschnecke, zart wie Babypo, saftig wie Tiefseequalle – aber dieser unvergleichliche Geschmack …). Filet Mignon, das buchstäblich auf der Zunge zergeht; das Besteck braucht man nur, damit man sich in der Ekstase an etwas festkrallen kann.

Voll gefressen und mit wohligem Lächeln auf dem Gesicht (Debbie hatte das hinterhältig geplant!) geht’s zurück auf die Farm.

Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so Auto fährt wie Mike: In weit nach vorn gebeugter Haltung faltet er die Hände über dem Lenkrad – gerade, dass er nicht auch noch das Kinn darauf stützt. Mike sagt, das hat er sich beim Traktorfahren angewöhnt. Tatsächlich, wenn man die endlosen Ackerfurchen und die ebenso endlosen schnurgeraden Straßen in dieser Gegend vergleicht, kann man diese evolutionäre Spielart der Automobilistik nachvollziehen.

Mike droht uns auf der Fahrt an, dass er den Kühlschrank voller Bier hat, sein Bruder Jake wohl mit ein, zwei Freunden zu Besuch ist und außerdem ein Dartsspiel zu Bon-Jovi-Klängen auf uns wartet.

Jake und sein Freund sind schon ziemlich in Ordnung. So in Ordnung, dass wir schließlich wie bei einem Ländermatch T-Shirts austauschen. Wir haben jetzt jeder eins mit der Aufschrift „Jake’s Sweetcorn“ und einem riesigen gelben Maiskolben drauf. Jake ist dafür begeisterter Besitzer des Studentenkonto-Spargeschenk-Hemds einer österreichischen Bank. Die Pfeil-und-Bier-Session dauert die ganze Nacht, und Mike überfällt uns gegen zwei Uhr hinterrücks mit ein paar Flaschen „Goat’s Breath“, die er irgendwo aus einer finsteren Gruft hinter dem Haus geholt haben muss: Dieses lokale Micro-Brew ist so stark und übel riechend, dass es wohl besser als Riechsalz oder Hustensaft einzusetzen wäre, statt es auf ahnungslose Dünnbiergenießer loszulassen.

Ob da wohl echte Ziegen drin sind?

Nachdem Tobi die Sache mit dem Ziegenbier zu haarig ist, muss ich wieder dran glauben: Ich ziehe mir den gesamten „Ziegenatem“ selber rein und hauche Tobi dafür zur Strafe ordentlich ins Gesicht (vermutlich ist so auch der Name für dieses wunderliche Gebräu entstanden).
 

Oasen

Ach, in Iowa ist ja so vieles anders! Was für eine wilde Gegend: Allen Gesetzen der Natur zum Trotz hat hier der unerbittliche Kampf zwischen Maisfeldern und menschlichen Siedlungen bis heute keinen Sieger hervorgebracht. Das Symbolbauwerk „Wasserturm“ hat deshalb für uns, seit wir den Mississippi überquert haben, eine wichtige Funktion bekommen: „Wasserturm“ bedeutet in einer Umgebung wie dieser so viel wie Zivilisation, Supermarkt und Restaurant. Wassertürme sind Oasen-Wegweiser. Sie spenden all jenen Hoffnung, die durch Iowas heiße, endlose Maiswüste reiten.

Der Turm vor Thompson gab uns diese Hoffnung schon aus einer Entfernung von sieben Meilen. Nur, dass er zunächst nicht und nicht näher kommen wollte. Stattdessen flimmerte er blässlich blau am Horizont – mit allen Anzeichen einer Fata Morgana.


Über die Autoren

Stefan & Tobi