Warm winds blowing,

heating blue sky,

and a road that goes forever …

Chris Rea

 

Am Morgen warten wir eine durchziehende Gewitterfront ab und fassen den Entschluss, heute nach White Rivers zu fahren, um dort den amerikanischen Unabhängigkeitstag zu feiern (irgendein Scherzbold hatte uns nämlich erzählt, dass man das, ähnlich wie Neujahr, um Mitternacht tut …).

Das gestrige Schild („Winner – where the West begins“) entsprach präzise den Tatsachen: Der Westen beginnt, wenn man auf der 44 aus Winner rauskommt. Eine malerische Strecke führt durch offene Landstriche voll strömender, wogender, atmender Kraft: Endlose Weizenfelder gehen fließend in wilde Prärie über. Es duftet nach Kräutern, und die Straße ist nur ein dünner Strich in einem Ozean aus gelb blühenden Gräsern. Dann – nach einer Ewigkeit – eine Veränderung am weißlich schimmernden Horizont: Wieder eine Gewitterfront? Nein, Berge! Wie gigantische Ozeandampfer tauchen nach und nach Quader, Kegel und Pyramiden in der Ferne auf. An der Straße verdampft währenddessen die westliche Zivilisation in der Hitze.

Wir fahren durch Witten (25 Einwohner) und angeblich auch durch Mosher (jedenfalls war das Kaff auf unserer Karte eingezeichnet). Orte, so winzig, dass man sie kaum zu betreten wagt.

„Wood“ kündigt sich auf den Wegweisern an wie jede größere Provinzstadt in Österreich. Tatsächlich leben 35 Menschen hier. Dafür hat Wood immerhin eine Tankstelle und ein kleines Geschäft. – Da gerade Essenszeit ist, entscheiden wir uns (mangels irgendwelcher Alternativen) für schmackhafte, vollelastische Mikrowellen-Hamburger mit Cherry-Cola und freuen uns darüber, dass wir hier überhaupt etwas Warmes bekommen.

200 Meter nach dem Ortsschild von Wood ist die Straße plötzlich mit Tausenden von Heuschrecken übersät. Die folgenden Minuten gleichen einer Fahrt durch ein Minenfeld aus Popcorn. Ausweichen unmöglich – was bleibt, ist: Hemd in die Hose, Kragen hoch, Mund zu – und durch (bah!).

Bei 100 Grad Fahrenheit und (wie glücklich, überglücklich sind wir!) Rückenwind geht es an weit gestreuten Bisonherden vorbei. – Schließlich erreichen wir White Rivers. Mit Verwunderung stellen wir fest, dass hier noch immer die Central Time gilt – obwohl der Ort laut Rand McNally bereits eindeutig in der Mountain-Time-Zone liegt (und dieser Atlas doch immerhin das weit verbreitetste Kartenwerk der USA ist!). Daraufhin erklärt man uns mit grimmigem Lächeln, dass Rand McNally hier rein gar nichts zu melden hat: Den Einwohnern von White Rivers ist nämlich völlig egal, was irgendein Typ in irgendeinem weit entfernten New Yorker Verlag über ihre Zeitzonen denkt. Zeitmäßig orientiert man sich ausschließlich nach Osten – denn im Westen liegt das Reservat … – Nachdem wir nicht den Eindruck erwecken wollen, als seien wir völlig hintennach (auch wenn sich’s dabei bloß um eine Stunde handelt), stellen wir unsere Uhren also wieder um.

Als wir von einer Barfrau erfahren, dass der 4. Juli doch erst am 4. Juli stattfindet, fahren wir weiter.

Es ist noch heißer als gestern. Der aufgeweichte Asphalt wirft Blasen, die beim Drüberfahren knistern wie festgetretener Kaugummi. Teergefüllte Risse und Sprünge in Längsrichtung der Straße werden gefährlich wie Straßenbahnschienen. Überall, wo es Wasser gibt, rasen Libellenschwärme im Tiefflug über die Fahrbahn.

Der nächste Ort, Cedar Butte, ist ein ausgedehntes Altautolager mit zwei Einwohnern: dem uralten Jack und seinem noch wesentlich älteren Bruder Joe. Joe hat hier vor Jahren mal ein Postamt betrieben, weshalb die „Stadt“ überhaupt noch so potent auf der Landkarte verzeichnet ist. Jetzt ist er in Pension, verkauft (oder sammelt?) Schrottautos und verhökert darüber hinaus Benzin und Lebensmittel an darbende Touristen, denen just in Cedar Butte der Gasfuß eingeschlafen ist. 25 Kilometer vor „Trash Town“ und 25 Kilometer danach: nichts!

Jede Wette, dass die Schrottautos weggehen wie die warmen Semmeln! Schließlich gibt’s hier so gut wie keine Konkurrenz …

Was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Wanblee, das uns mittlerweile als Tagesziel vor Augen schwebt, liegt mitten im Indianerreservat.

Im Reservat wundert man sich entsprechend über uns: Mutig seien wir, dass wir uns hier mit dem Rad durchtrauten. – Mit Verblüffung nehmen wir unseren Mut zur Kenntnis: Wird man uns etwa mit Tomahawks auflauern, mit Pfeil und Bogen beschießen, skalpieren? – Nein. Das Problem ist Alkohol am Steuer. Und die vielen zerbrochenen Bierflaschen auf der Straße. Broken dreams – eine Scherbe für jeden zertrümmerten Traum. Ein Hauch verwester Hoffnungen liegt in der Luft: Pine Ridge Indian Reservation – Heimat eines betrogenen Volkes, belogen zuerst von den Weißen, dann aber auch von den eigenen Führern und Vätern, dass es aus dieser Sackgasse einen gangbaren, menschenwürdigen Ausweg geben könne.

„This land is our land“, hat Bruce gestern gesagt. Er hat Recht. Und geht damit doch so weit an der Realität vorbei. Eine Lücke, die sich scheinbar nur noch mit Schnaps ausgießen lässt. Was wir hier von den Indianern sehen, würden wir am liebsten ganz schnell wieder vergessen, doch es gräbt sich unauslöschlich ins Gedächtnis: „Ghetto“ wäre ein passenderer Begriff für Orte wie diesen, wo unter behördlicher Aufsicht der Tod eines Volkes zelebriert wird. „Indian Health Care“ – ein anderes Wort für Alkoholiker-Zentrum, getarnt als Vokabel der Hoffnung.

Als wir nach mehr als 170 Kilometern in Wanblee einfahren, schwanken die Reaktionen von blanker Verwunderung bis hin zu offener Feindseligkeit. Ein kleiner Junge will uns allen Ernstes laut schimpfend und bei lebendigem Leibe die Fahrräder abnehmen, und so ergreifen wir schließlich entnervt die Flucht, ehe seine älteren Brüder auch noch auftauchen.

Am Ende haben wir dann aber Glück: Eleanor Charging Crow, eine alte Indianer-Mummy, nimmt uns bei sich auf und stellt uns ihren Keller samt Dusche zur Verfügung. – Eleanor und ihr Mann sind Rettungsfahrer für die „Indian Health Care“; immer, wenn es Unfälle in der Umgebung gibt (nicht selten wegen Alkoholmissbrauchs), müssen sie los.

Eleanor erzählt uns von ihrem Sohn, der als Sänger mit 35 Jahren völlig überraschend an einem Herzinfarkt gestorben ist, und zeigt uns Fotos von seinen Tourneen: Im Laufe der Zeit hat er Menschen aus aller Welt mit ins Reservat zu seinen Eltern genommen, um ihnen zu zeigen, wie die Indianer hier wirklich leben. Ihr Sohn hätte sich sicher gefreut, uns kennen zu lernen.

Der Tag war lang – 25 Stunden dank der überquerten Zeitzone. Die Nacht im schwülen Keller ist mit Hilfe eines riesigen Ventilators ganz gut zu überstehen. Zweimal müssen die Charging Crows in dieser Nacht mit dem Krankenwagen ausrücken. Aber für sie ist das normal.
 

Game Zone

Das „Computerspiel“, das im Osten mit Raupen und Eidechsen begonnen hatte, hat in diesen Tagen wieder mal ein neues Level erreicht: Nicht wegen der Glasscherben – davon liegen im Reservat eigentlich auch nicht mehr herum als anderswo. Die neue Herausforderung sind Libellen, die im Zickzackkurs und Zeitlupentempo über die Straße schweben, um dann urplötzlich und völlig unvermutet in irgendeine unvorhersehbare Richtung zu schießen. Die Chancen, da irgendetwas vorauszuberechnen oder womöglich auszuweichen, sind verschwindend gering.
 


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Stefan & Tobi