Oh show me the way to the next powerbar!

Doors-Song für Radfahrer

 

„Radfahren verbraucht Kalorien. Verbrauchte Kalorien müssen regelmäßig erneuert werden. Der kluge Mann denkt voraus. Er ernährt sich nicht von Baumrinde, Käfern oder wilden Beeren. Er nimmt Essen mit.“

(Ernährungstipp des „Massachusetts Institute of Entomology“)
 

Als wir vom Campingplatz auf die 16 einbiegen, beginnt es leicht zu tröpfeln. Tobi zieht gleich seine Regensachen über. Aber diese Art von Wetter kennt man von zu Hause. Es wird nicht lange dauern. Es hört sicher bald wieder auf.

Als ich klatschnass bin, entscheide ich mich doch für das Regenzeug. Denn es hört nicht auf. Nicht heute. Ich werde deshalb noch ordentlich frieren an diesem Tag.

Im Moment ist es aber noch ganz nett. Schnürlregen auf amerikanisch. Die Kälte hält sich in Grenzen, zumindest wenn man in Bewegung bleibt. So geht’s dahin. Highway 197: Die saftig grüne Landschaft von Massachusetts und Connecticut im Regen; Laubwälder, frisch geschminkte Häuschen, erstaunlich ruhige Straßen – das hat schon was.

Tobi fährt ein bisschen voraus. Soll er doch, so habe ich wenigstens nicht immer sein Regenwasser im Gesicht. Als die 197 plötzlich endet, ist er nicht mehr zu sehen. Hatten wir nicht ausgemacht, an Kreuzungen aufeinander zu warten? Ein Blick in die Karte enthüllt, dass er den falschen Weg gefahren sein muss: An dieser Kreuzung müssen wir nach links. Ganz eindeutig. Ich schicke ihm einen Autofahrer nach, der ihn zum Umkehren bewegen soll. Es ist eine folgenschwere Entscheidung.

Stefan hat mich von der richtigen Route mit Hilfe eines Autofahrers zurückgepfiffen, nachdem er selbst an der entscheidenden Kreuzung stehen geblieben ist. Die letzten zwei Hügel wieder hinauf. Eine unnötige kraftraubende Quälerei. Als er schließlich draufkommt, dass wir jetzt wirklich falsch gefahren sind, könnte ich ihn kalt lächelnd erwürgen. Aber uns ist schon kalt genug.

Dreißig statt zehn Meilen. Mist. Ich habe mich in der Karte verlesen. Eineinhalb Stunden zusätzlich durch den strömenden Regen. Für nichts. Außer vielleicht ein bisschen Weisheit: Seit diesem Tag gibt es niemanden mehr, der die Karte so genau studiert wie ich.

Das Wasser rinnt an unseren Beinen entlang, sammelt sich in den wasserdichten Socken und findet keinen Weg hinaus. Aber wenigstens sind die Füße warm: Weiß wie zwei aufgeweichte Semmeln schwabbeln sie in dem lauwarmen Fußbad. Durchnässt und durchgefroren machen wir in einer Feuerwehrgarage in Eastford Mittagspause. Immerhin können wir unsere Wasserflaschen auffüllen. Wasser haben die Jungs von der Brandbekämpfung genug. Und eine Alarmsirene – aber was für eine!

Als sich endlich unsere Haare geglättet haben (dreimal Hochwasseralarm in nur 30 Minuten) und wir wieder etwas hören können, belehren uns die Einheimischen über den feinen Unterschied zwischen Eastford und Westford. Westford könne man eigentlich kaum mit Eastford verwechseln: Denn Eastford liegt viel weiter östlich. Und ist außerdem schöner. – Wir sind tief bewegt. Schließlich gibt es niemanden, für den der Unterschied zwischen West und Ost so wichtig ist wie für uns.         

Einem der Feuerwehrmänner erzählen wir, wir würden diese Tour eigentlich bloß machen, weil andere Leute finden, dass das verrückt ist. Er lächelt wissend: Aus demselben Grund ist er zur freiwilligen Feuerwehr gegangen.

Nachdem wir am frühen Nachmittag endlich doch die heiß ersehnte 190 erreicht haben, geht es zügig über die Berge. Bei den wenigen Pausen, die wir einlegen, wird uns ohnehin bloß kalt – also verlegen wir uns aufs Radfahren.

Kurz nach Stafford Springs versagt mein Radcomputer – na ja, es ist schon der dritte Tag, immerhin!

Nach Springfield meldet er sich plötzlich wieder und spuckt die neuesten Lottozahlen aus. Dies ermöglicht einen neuen Weltrekord: 411 Meilen in der Stunde, aufgestellt am Ende von Route 190. Toll, in zehn Stunden könnten wir in San Francisco sein!

Langsam sickert bei uns die Erkenntnis durch, dass man bei einer Dauerleistung wie stundenlangem Radfahren vorbeugend essen muss. Erst dann zu essen, wenn man Hunger hat, ist dumm. Das ist wie mit Vollgas auf der Autobahn fahren und erst ans Tanken denken, wenn der Motor stottert. Der dumme Mann muss schieben.

Ähnlich ergeht es uns heute auch: Mühsam, immer mühsamer schieben wir uns die endlos aneinander gereihten Hügel hinauf. Das wird bestimmt das letzte Mal sein, dass wir keine Notverpflegung dabeihaben. Vorhin erst waren wir vor Gier zitternd auf allen vieren in einen Diner gekrochen, um ein paar Sandwiches in uns hineinzuschlingen. Aber dieses „Vorhin“ ist nun auch schon wieder zu lange her.

Abends noch immer dasselbe Bild: In dichten Nebel gehüllt und triefend nass kämpfen wir uns die Berge von Connecticut hinauf. Wir sind nun schon seit Stunden an keinem Deli mehr vorbeigekommen. Warum haben die Amis mitten in diesen Wald keinen Supermarkt gebaut? Verdammt, die sind doch sonst nicht so zimperlich! Eins ist jedenfalls klar: Die Kalorien, die nötig sind, um diesen Hügel hinaufzukriechen, haben wir schon ein paar Hügel zuvor verbraucht …

Gegen 19 Uhr klopfen wir mit durchweichten Fingern an die erstbeste Tür. – „Hunger!“, denken wir, und bestimmt liegt dabei ein gieriger Glanz in unseren Augen. Nichtsdestotrotz heißt es Fassung bewahren und diplomatisch vorgehen. Doch die Frau, die uns öffnet, liest offenbar irgendeine andere, mehr körperliche Gier aus unseren Blicken. Sie lässt uns erst mal unter ihrem Vordach stehen und ist trotz nimmermüden amerikanischen Lächelns sichtlich schockiert, als ihr klar wird, dass wir Unterschlupf in ihrer Garage begehren. Ihr Mann winkt so entschlossen ab, als wollte er zwei lästige Fliegen erschlagen; er muss noch irgendwo hin und will uns nicht in seiner Abwesenheit mit der Frau und den beiden Kindern im Haus wissen. Wir sehen wohl gefährlich aus. Irgendwie. Wahrscheinlich sind wir zu nass, um wie Helden auszusehen.

Spontan (eigentlich aus Versehen) greifen wir zu einer Notlüge: Dass wir vielleicht ein Buch schreiben werden. Über die netten Leute in Amerika. – Die nächsten eineinhalb Stunden verbringen wir daraufhin (auch ohne Ehemann Wayne) im Haus: Spaghetti mit Fleischknödeln seien doch das Mindeste, was sie uns anbieten könne, meint unsere neue Freundin Liz. Und nachher Eiscreme und Früchte und Kaubonbons für unterwegs. Denn „after all“ sei dies ja Amerika!

Nach ein paar Anrufen bei Nachbarn nehmen uns schließlich die Viksnes aus Norwegen bei sich auf. Trotz des seltsamen Namens begegnen wir dort einer lieben, warmherzigen Familie, für die unsere Unterbringung eine Selbstverständlichkeit ist. Unsere durchgeweichten Radschuhe kommen in, nein, an den Kamin, der Inhalt unserer nassen Radtaschen in den Wäschetrockner. Wieder etwas dazugelernt: In Zukunft werden wir alles in unseren Taschen noch zusätzlich in wasserdichte Müllsäcke packen. – Eine morgendliche Routine mehr.

Heute Nacht schlafen wir in einem Bett. – Endlich. Es ist das erste Mal seit Tagen. Na ja, zumindest seit vorgestern.


Über die Autoren

Stefan & Tobi