The thrill is gone.

B. B. King

 

Nach einem kräftigen Frühstück bin ich auch moralisch stark genug, die entsprechenden Maßnahmen für meine in Lakeview vergessene Brille zu treffen: Mit einer gewissen Routine rufe ich zuerst die Polizeistation in Red Bluff an (ein Ort auf unserer künftigen Route) und frage, ob man dort wohl meine Brille in Empfang nehmen würde. Als das klappt, kontaktiere ich unsere Freundin Erika in Lakeview: Erika ist glücklicherweise daheim und sie verspricht, dass sie meine Brille nach Red Bluff schicken wird.

Mühsam nährt sich das Eichhörnchen: Nur, weil wir jetzt in Kalifornien sind, ist die Berg-und-Tal-Bahn noch keineswegs beendet. Die Ausläufer der Rockies bringen uns auch jetzt noch ordentlich ins Schwitzen. Das Schönste ist heute die große Abfahrt über den Adin-Pass: Auf einmal taucht vor uns im Dunst völlig unerwartet der mehr als 4000 Meter hohe, schneebedeckte Mount Shasta aus der Ebene auf.

Jeden Moment rechne ich damit, dass mein Hinterrad auf einer der Abfahrten endgültig den Geist aufgibt und ich die letzten zwanzig Meter meines Lebens im Flug zurücklege.

Irgendwas auf dieser Reise muss mich unheimlich verweichlicht haben: Für die Zeit nach meiner Rückkehr habe ich mir jedenfalls geschworen, nur noch mit dem Auto zu fahren und in den Pausen dazwischen mit Mikrowellen-Popcorn vor dem Fernseher zu sitzen …

Um die Zeit bis zur Heimkehr zu überbrücken, habe ich mir außerdem noch eine kleine Paranoia zugelegt, mit der ich bis dahin herumspinnen kann: Ich habe Angst, unsere Reise nicht beenden zu können – entweder durch einen persönlichen Fehler oder durch einen dieser verrückten Autofahrer. Immerhin mal was Neues. Gut möglich, dass das eine Spätfolge des Zwischenfalls in Idaho ist, als ein vorbeifahrender Autofahrer versucht hat, mich mit seiner Wagentür zu erlegen. Ich fühle mich wie in dem Kultfilm „Easy Rider“, wo die Helden kurz vor Ende plötzlich von irgendeinem Fanatiker von der Straße geballert werden. Der Mut zum Risiko ist jedenfalls deutlich gesunken, jetzt, wo wir schon so weit gekommen sind.

Die heutigen 126 Kilometer sind von der mühsamen Art: Wir lechzen so sehr danach, endlich zum Pazifik zu kommen, dass wir um uns herum gar nichts mehr wahrnehmen. Oder gibt es hier am Ende nichts zu sehen? Kleinere Städte wechseln sich ab mit größeren Baustellen … – aber San Francisco scheint während der ganzen Zeit einfach nicht näher zu kommen. Zum Ausgleich ignorieren wir die Gegenwart und hängen stattdessen allen möglichen Zukunftsphantasien nach.

Zu allem Überfluss brät uns auch noch die Sonne kräftig eins über. Ein letzter Meilenstein (die 6000 Kilometer sind jetzt immerhin voll und 7000 werden es bestimmt nicht mehr werden) geht in dieser Atmosphäre fast unter. Wenn man dann am Abend trotz einer anständigen Leistung kein Quartier findet, wird man auf einmal wieder auf den harten Boden der Realität zurückgeholt. Da hilft nur die große Sehnsucht nach dem Pazifik und der unvorstellbare Gedanke, dass wir in einer guten Woche in Frisco sind.

In High River Mills schnorren wir einen Methodistenpfarrer um einen Schlafplatz im Keller seines Gotteshauses an. Doch der sitzt gerade schwer beschäftigt vor seinem Computer (ob er Tetris spielt oder die Kollekte des letzten Monats zusammenrechnet, können wir leider nicht erkennen) und vertröstet uns auf später („Call me in two hours!“).

Wir vertreiben uns die Zeit mit Abendessen in einer Pizzeria, speisen fürstlich, spielen Flipper und sehen uns das 800-Meter-Herren-Finale in Atlanta an. Langsam wird es dunkel. Bloß, der Pfarrer ist nicht zu erreichen! (Sind alle Kirchenmänner in Kalifornien so unzuverlässig?)

Nachdem der örtliche Methodistenpfarrer sich als Niete herausgestellt hat, finden wir schließlich Zuflucht in einer Volksschule. Die Feuertür zum Schultheater stand einfach offen. So ein Pech aber auch; Tobi konnte wieder einmal nicht widerstehen …

Der Pfarrer hätte uns sicher sowieso hier untergebracht!


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Stefan & Tobi