Erdöl!

Urschrei

 

Die Sonne brennt heiß und unbarmherzig auf uns herunter, der Wind bläst konstant wie ein Düsentriebwerk und die Straße ist einfach erbärmlich – als ob man hier für jeden Einwohner Kanadas ein eigenes Schlagloch angelegt hätte. „The Kings Highway“ steht auf einem Straßenschild. Nur, welcher König? Ist der nicht schon lange tot? Das würde dann erklären, warum er sich so wenig um seinen Highway kümmern konnte. Oder war die Straße schon immer so schlecht? Hmm … – Vielleicht wurde er von einem frustrierten Radfahrer gelyncht?

Und uns ist auch schon ganz schlecht: Die Gelsen beißen heute wieder besonders gut, vor allem dann, wenn wir es wagen, vom Rad zu steigen, um ein Päuschen zu machen. Solcherart gejagt, legen wir trotz Gegenwindes ein ansehnliches Stück Weg zurück.

Aber die verzweifelte Flucht benebelt offenbar auch unsere Sinne. Oder kann es eine andere Erklärung dafür geben, warum wir nicht einmal anhalten, um Trinkwasser aufzutanken? Als wir den Fehler bemerken, ist es leider schon ein bisschen zu spät: Wir sind auf einer Nebenstraße, auf der es nichts, aber auch wirklich nichts gibt – nicht einmal Asphalt.

Hochschaubahn auf Schotter: rauf – runter, rauf – runter, rauf – runter. Schwung mitnehmen verboten, weil es einen auf dem rutschigen Untergrund sonst furchtbar auf die Fresse haut. Stefan fährt mir trotzdem davon, wohl auch, weil wir uns wegen irgendeines Blödsinns („He, wenn du so knapp vor mir fährst, krieg ich den ganzen Sand in die Augen!“) in die Haare geraten sind. – In kürzester Zeit ist er nur noch ein Fliegendreck am Horizont.

Ich kneife die Augen zusammen: Hält er? Wartet er, damit wir wenigstens noch Sichtkontakt haben? Oder verschwindet der Punkt hinter der Kuppe? Dann ist er wirklich ein egoistischer Schweinehund.

Ich traue meinen Augen nicht: Der Punkt kippt nach links und fällt einfach um! Mit dieser Möglichkeit hatte ich nicht gerechnet. Ich bleibe erstaunt stehen und warte darauf, dass er wieder aufsteht. Nichts! – Panik! Wie ein Irrer trete ich in die Pedale, rase mit den 15 Kilo Gepäck den Berg hinauf, wie noch nie in meinem Leben bei dieser Hitze und dem Gegenwind. Kein Erklärungsversuch ist befriedigend oder zielführend: Kreislaufkollaps? Nein, nicht Stefan. Wurde er am Ende irrtümlich von einem Jäger für einen Elch gehalten und angeschossen? Wohl kaum! Oder doch? (Er ist zwar hin und wieder ein Rindviech, aber deswegen gleich niederschießen?) – Die Sache verheißt jedenfalls nichts Gutes. Ich erreiche in gestrecktem Galopp die Kuppe und fahre den reglos Daliegenden vor lauter Sorge beinahe über den Haufen. Speiübel ist mir von der Anstrengung. Ich spucke Galle, schwitze Blut. Und er – war mitsamt seiner idiotischen Clip-Bindung im tiefen Schotter umgekippt, nicht mehr rechtzeitig mit dem Fuß rausgekommen und einfach zu faul gewesen, in den letzten zwei Minuten wieder aufzustehen. Nun liegt er vor mir und malt mit dem Zeigefinger gelangweilt im Kies herum. Danke, Brüderchen, danke vielmals!

Eine Stunde später gibt es an der nächsten Kreuzung, dort, wo sich 79 und 4 treffen, zur Belohnung Wasser zum Waschen und Cola für Tobi.

Zwischen zwei Cokes treffen wir dann eine folgenreiche Entscheidung: Anstatt die 79 nach Norden zu nehmen, biegen wir nach Westen ab auf Highway 4. Beide Straßen führen letztlich in die richtige Richtung, aber „Number Four“ wird uns geradewegs in das schöne Örtchen Petrolia führen …

Noch an der Ortseinfahrt spielen wir mit dem Gedanken, heute einmal im örtlichen Park zu übernachten, doch der hiesige See ist so verdreckt, dass an Waschen – oder gar an ein Bad – nicht zu denken ist. Auf der Suche nach Höherem fahren wir zunächst einmal weiter.

Die Stadt stinkt gar nicht so sehr nach faulen Eiern und Öl, wie sie es dem Namen nach eigentlich müsste: Petrolia ist – so erzählt man uns – die älteste Erdöl fördernde Stadt des Kontinents. Was heißt des Kontinents – der ganzen Welt! Hier sprudelte der erste ernst zu nehmende Quell der Autotechnik, der Heizindustrie und der Umweltverschmutzung. Diesel, Daimler, Otto und Porsche wären ohne Petrolia wohl Gemüsehändler geworden!

Noch vollkommen berauscht von dieser bahnbrechenden Erkenntnis laufen wir vor dem Supermarkt geradewegs einem Radfahrer in die Arme. Es ist Drago! – Doch das wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht. Der Mann mit dem spärlichen Haarwuchs ist uns jedenfalls sofort sympathisch, weil er dieselbe französische Radmarke fährt, auf der wir daheim über unseren Hausberg, die Sophienalpe, zu reiten pflegen.

Drago ist Kroate und scheint uns spontan adoptieren zu wollen, als er erfährt, dass wir aus Austria kommen. Seine Frau ist gebürtige Steirerin, und wir müssen unbedingt ein paar Tage bleiben und seinen selbst gemachten Wein kosten und Flori (seine Frau) kennen lernen und ihr Kletzenbrot probieren und seine kroatischen Freunde besuchen. Bei dieser Reihenfolge bleibt es dann letztlich auch.

Als Flori endlich spät am Abend von der Arbeit kommt, ist es schon fast so etwas wie ein Wiedersehen, so viel hat Drago ihr am Telefon von uns erzählt.

Flori schließt uns sofort ins Herz. Entsprechend froh ist sie auch, dass uns Drago in ihrer Abwesenheit schon so gut bewirtet hat: Drago makes very good (guat) wine! (Flori speaks liabes Inglisch!)

Drago und Flori sind zwei alte Romantiker. Er war 24, sie 17, als Drago in einem österreichischen Auffanglager interniert wurde und sie sich kennen lernten. Die weitere Geschichte hört sich an wie aus einem Herzerlroman: Drago wandert nach Kanada aus, Floris Eltern verbieten ihr mitzugehen. Mit 18 brennt sie kurzerhand durch. – Als sie uns jetzt davon erzählt, muss sie verschmitzt lächeln. Flori erinnert in ihrer Art noch sehr an das junge Mädchen, das sie uns auf den alten Fotos zeigt.

Die allgemeine Begeisterung macht müde. Am Ende schubst uns eine kühle, sternenklare Nacht rücklings in zwei butterweiche Betten, denen wir bestimmt nicht vor morgen 10 Uhr entsteigen werden.


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Stefan & Tobi