What you get is what you see!

Tina Turner

 

Wie der nobel reisende Weltenbummler weiß, verfügt das San Francisco Hilton über ein höchst ungewöhnliches Garagensystem: Man kann mit dem Wagen bequem in jedes einzelne Stockwerk fahren und sein Vehikel praktisch vor der Zimmertür abstellen. Selbstverständlich kann man mit dem Auto aber auch das Dach erreichen. – In Anbetracht dieser Tatsache hatten wir gestern im Whirlpool eine nahe liegende Idee: Wir ziehen in San Francisco ein kleines Medienspektakel ab, informieren die Presse von unserer Ankunft und gewinnen das Frisco-Hilton als Sponsor. Dafür, dass das Hilton uns in einem seiner (bestimmt unausgelasteten) Zimmer nächtigen ließe, würden wir dann den offiziellen Endpunkt unserer Reise auf das Dach des Hotels verlegen, mit den Rädern bis ins oberste Stockwerk strampeln und so der Luxusherberge zu spektakulärer, nie da gewesener Publicity verhelfen.

Fast bis Mittag telefonieren wir in dieser Angelegenheit herum und versuchen, die Sache mit der Übernachtung in Frisco zu fixieren. Aber irgendwie kommt der Medienrummel um zwei radelnde Ausländer in San Francisco trotz mehrerer Anrufe bei Zeitung und Fernsehen nicht wirklich ins Rollen, das Hilton ist außerdem angeblich ausgebucht und der Manager will uns nicht einmal zwecks der Hetz mit den Rädern aufs Dach lassen. – Hauptgrund für die Absage: zu gefährlich! Als ob wir nicht wüssten, was gefährlich ist …

Unflexibel und spießig, dieses Küstenvolk! Wenn wir möchten, dürfen wir durchaus mal mit dem Aufzug rauffahren. (Spinnen die? Haben die eigentlich überhaupt zugehört, was wir hier abziehen wollten?!)

Ehe wir uns von Barbara verabschieden, macht sie uns noch einen ordentlichen Brunch. Sobald sie aber außer Sichtweite ist, stolpern wir wieder direkt in einen neuen unmäßig mühseligen Tag. Langsam, unendlich langsam verringern wir den Abstand zwischen uns und dem Pazifik. Richtig, eigentlich tun wir ja seit über zwei Monaten nichts anderes – nun aber erwarten wir jeden Augenblick das Meer am Horizont. Und es ist diese Erwartung, die uns, solange sie unerfüllt bleibt, förmlich auffrisst.

Immer, wenn der Verkehr es erlaubt, fahren wir nebeneinander. Nachdem wir die letzten 6700 Kilometer gemeinsam überlebt haben, liegt uns viel daran, auch die spontanen Gefühle zu teilen, die uns beim ersten Anblick des Meeres überkommen werden. – Aber dieses Glück scheint uns versagt zu bleiben: Das Meer will sich einfach nicht zeigen, nicht einmal in Tomales, obwohl der Ort doch angeblich keine fünf Meilen vom Pazifik entfernt liegt.

Stimmung kommt folglich auch keine auf. Stattdessen starker Wind. Und wieder unheimliche Kälte. Uns vergeht sogar die Lust, nach Dillon Beach zum Strand hinunterzufahren. Was sollen wir dort bei diesem Wetter? Das Meer wird uns ja doch nicht entkommen.

In den Träumen der letzten Wochen und Monate war immer vorgesehen, dass ich mich an einem sonnigen Strand vor lauter halb nackten Badeschönheiten theatralisch ins warme Wasser fallen lasse. Davon kann nun keine Rede sein – am heiß ersehnten Pazifik herrscht Eiszeit.

In einem Zeitungsladen fragen wir nach dem Steigungsprofil von Highway 1. „Von hier nach San Francisco geht es nur noch bergab“, sagt uns der Mann. Wir können es kaum fassen! Als der Mann das bemerkt, fügt er hinzu: „Na ja, zumindest die Hälfte davon.“ – Genauso ist es dann auch. Sinnloses Bergauf und Bergab, ein Hügel nach dem anderen.

Wir fahren weiter auf der „Eins“. Der berühmt-berüchtigte „Highway Number One“ ist in dieser Gegend ein Schatten seiner selbst: wenig Verkehr (immerhin etwas) und keine Aussicht. Immer wieder bleiben wir stehen, um nachzusehen, ob er es auch wirklich ist. Beim Autorennen auf Nicks Spielcomputer damals in Boston sah das alles viel imposanter aus.   

Hinter einer Bergkuppe taucht auf einmal völlig unspektakulär ein schmuddeliger grauer Wasserarm auf. Es dauert ein paar Augenblicke, bis wir realisieren, dass dies nun unser erster Blick auf den Pazifik ist: Die Ebbe hat einen lang gezogenen Kanal übrig gelassen, der sich nun langsam wieder mit Brackwasser füllt. Lake Michigan sah da mehr nach Ozean aus! Nur die vielen Fischer, die um diese Tageszeit ihren Krabben- und Austernfang an die touristenverseuchten Uferlokale abliefern, machen die unmittelbare Nähe des großen Meeres einigermaßen glaubhaft.

Vor lauter Frustration erleide ich einen weiteren Reifenschaden. Immerhin schon mein dritter auf dieser Reise. Was das anlangt, habe ich viel aufgeholt in den letzten Tagen. – Vielleicht kann ich Tobi am Ende doch noch schlagen? Immerhin sind es ja noch beinahe 50 Meilen bis San Francisco.

Unser vorletztes Reifenpflaster findet unter lautem Gefluche seinen endgültigen Bestimmungsort auf Stefans Vorderrad. Mein „Kriechpatschen“ hat sich dafür sonderbarerweise etwas beruhigt, ich muss ihn nur noch zweimal am Tag aufpumpen. Sogar die Luft scheint unter diesen Umständen keine Lust mehr zu haben, aus den Reifen in das bitterkalte, nordkalifornische August-Tief zu entweichen.

Bei Stinson Beach (hier hat man wenigstens echten Meerblick) verlassen wir das zermürbende Auf und Ab von Highway 1 und fahren stattdessen auf einer Panoramastraße Mt. Tamalpais hinauf. (Es ist der letzte Berg vor San Francisco. Der allerletzte – und diesmal wirklich.) Es geht auf sieben Uhr zu, und wir klettern noch einmal unermüdlich auf über 2000 Fuß durch die Muir-Redwoods den Wolken entgegen. Es war schon unten kühl, oben wird es dafür empfindlich kalt.

Anfangs können wir noch die Bucht von Stinson Beach sehen, später nur noch Dunst. Bei einer kurzen Abfahrt verabschieden sich unsere Finger vor Kälte. (Stand hier nicht irgendwo „Kalifornien“?) Dann schwappt der Nebel über die Straße. Wir können nichts mehr sehen. Noch schlimmer: Man kann auch uns nicht mehr sehen. Es wird gefährlich. Irgendwo da unten in der grauen Suppe mag San Francisco sein. Aber bei dieser Sicht könnten wir auch durch San Francisco durchradeln und würden es nicht bemerken. Ein unbeleuchteter Porsche mit quietschenden Reifen rast knapp an uns vorbei. Es ist Zeit aufzuhören.

Als uns vor einer erneuten Abfahrt jemand freundlich zuwinkt, ist für uns alles klar: „Dürfen wir über Nacht hier oben bleiben?“, fragen wir. Wir dürfen.

Der freundliche Winker ist Matt aus Colorado; er ist gerade bei einem Freund namens Dirk zu Besuch. – Dirks Haus wäre jedermanns Traum: 1910 gebaut, viel Holz, Blick zwischen den Bergen hindurch auf die San Francisco Bay (jedenfalls bei Schönwetter), 20 Minuten ins Zentrum, Hängematte mit Golden-Gate-Blick, ruhige Lage – toll! Dirk arbeitet bei der Rettung in Frisco, hat heute Nachtdienst und weiß daher noch gar nichts von seinem Glück. Matt sagt, er wird ihm später Bescheid geben, aber Dirk habe bestimmt nichts dagegen, unser Gastgeber zu sein.

Dank einer langen, heißen Dusche rasseln wir beide noch einmal haarscharf an einer bösen Erkältung vorbei.

Obwohl unser großes Ziel, die Golden Gate Bridge, in den letzten Tagen durch die mühselige Anreise einen ziemlich nüchternen Anstrich bekommen hat, wird das morgen, an unserem 68. Tag, einer der tollsten Augenblicke meines Lebens sein. Die Stunden bis dorthin sind noch zermürbender als Weihnachten in meiner Kindheit: das Warten, der ungeduldige Blick auf die Uhr und den Kalender. Das war immer das Schlimmste.

Die Räder scheinen sich jedenfalls überlegt zu haben, doch noch durchzuhalten. Immerhin: Wir haben noch genau einen Flicken, obwohl ich schon seit geraumer Zeit mit einem Loch in jedem meiner Reifen fahre (gestern früh war plötzlich auch im Hinterrad keine Luft mehr). Morgen wird es wohl das letzte Mal sein, dass ich pumpen muss.


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Stefan & Tobi