Ich spiele mit der Zeit.

Ich hab genug davon!

Hansi Lang

 

Debbie hat eine angenehme Art, einen aus dem Schlafsack zu prügeln: Sie kommt vom Nachbarhaus mit Pancakes, selbst gemachter Erdbeermarmelade und Ahornsirup zu uns herüber. Obwohl es noch mitten in der Nacht sein muss (warum würden wir wohl sonst die Augen nicht aufbekommen?), hauen wir ordentlich rein. Selbst Mike, der es als Bauer gewohnt sein sollte, mit den Hühnern aufzustehen, ist um diese Uhrzeit noch nicht cooler Farmer, sondern bloß braves Debbie-Söhnchen.

Einem von uns beiden ist gestern rausgerutscht, dass wir gerne mal ein richtiges amerikanisches Stock-Car-Rennen erleben würden (verbeulte Fords und Chevys schubsen sich gegenseitig um einen schief nach innen hängenden Rundkurs). Und: Wie es der Zufall so will, findet ausgerechnet heute Abend 60 Meilen nordwestlich von hier in einer Stadt namens Fairmont eine solche Schubspartie statt. Der Zufall will es auch, dass sich eben dort der Thompsoner Lokalmatador Troy Swearingen (wir hatten das Vergnügen, ihm gestern Abend im „Branded Iron“ persönlich die Hand zu schütteln) die Ehre geben wird.

Jaja, mit dem Zufall ist das so eine Sache. Debbies Mann war in seinem früheren Leben Stock-Fahrer. Wir haben also wieder einmal wahnsinniges Schwein – jetzt können wir uns das Rennen vielleicht sogar noch aus dem Fahrerlager anschauen! Der Plan ist damit perfekt: Wir radeln nach Fairmont (was wohl den ganzen Tag dauern wird) und Debbie kommt am Abend per Auto nach (was wohl in etwa eine Stunde dauern wird), um uns pünktlich um 19 Uhr auf die Rennstrecke zu schleusen.

Es ist mal wieder sauheiß. Nach 30 Meilen legen wir in Swea City eine Mittagspause ein. Am städtischen Swimmingpool kommen wir dabei nicht vorbei, für ausgiebige Planschereien fehlt uns heute allerdings die Muße. So lagern wir stattdessen kurzerhand im angrenzenden Park unter einem Baum und sehen uns das kühle Nass aus der Entfernung an.

Unser Kontakt mit den Einheimischen von Swea City beschränkt sich auf eine äußerst kleinkarierte und eine geradezu historische Szene: 1. Stefan fängt sich die Rüge eines Passanten ein („The Toilets are over there!“), als er sich mitten im Park an einer Pappel vergeht. (Wohin pinkeln in Amerika eigentlich die Hunde?) 2. Ein kleiner Junge namens Dave schaut mir aus sicherer Entfernung auf seinem Kinderklapprad beim Justieren der Gangschaltung zu und sagt schließlich mit allem ihm zu Gebote stehenden Mut: „That’s a nice bike!“ Ich lächle Dave freundlich an und erwidere respektvoll: „Yours isn’t bad either!“ – Wer weiß, vielleicht wird der Junge einmal ein bedeutender Radfahrer wie Eddie Merckx oder Miguel Indurain: „Der große Dave aus Swea City!“ Und ich war dann möglicherweise seine Schlüsselfigur.

Nachdem wir uns im Schatten ein bisschen abgekühlt haben, hält uns nichts mehr: Auf nach Fairmont. Mit soliden 12 mph geht es weiter nach Westen. Die rechtwinklig verlaufenden Straßen und ihre Beschilderungen erinnern schon sehr an New Yorks Manhattan („254th Street“, „255th Street“, „256th Street“). Natürlich, damals zur Gründerzeit war ja die Kurve noch nicht erfunden, und Stars gab’s auch keine, nach denen man die Straßenzüge hätte benennen können (so wie „John F. Kennedy Drive“ oder „Elvis Presley Boulevard“).

Als wir an der nächsten Ecke einen Haken nach Norden schlagen, auf einmal eine unerwartete Erkenntnis: Ach, daher weht der Wind! Anstatt wie bisher mit 12 mph sind wir nun plötzlich mit 25 Meilen unterwegs.

Wir fliegen dahin. Dafür steht uns jetzt auf einmal der Schweiß auf der Stirn. Logisch, wenn man in „Windeseile“ unterwegs ist, dann ist das ungefähr so, als ob man bei Flaute stehen bleibt: heiß!

Ich bremse zum ersten Mal in meinem Leben für eine in gleicher Richtung reisende Wolke, damit ich mich für ein paar Minuten in ihrem Schatten von der Sonne erholen kann.

In Fairmont suchen wir uns als Erstes einen See, um uns mit lautem Zischen hineinfallen zu lassen.

Während ich prüfe, ob sich in den Badeanlagen vielleicht eine Möglichkeit zur Übernachtung findet, versucht Stefan vom Häuschen der Bademeister aus, ein paar wichtige Männer (wie den Bürgermeister und den Pfarrer) anzurufen.

Schließlich erklärt sich Matt, einer der Lifeguards, dazu bereit, uns nach dem Rennen bei sich unterzubringen.

Als wir uns wenige Minuten später auf dem Rasen am Ufer des Sees niederlassen, quatscht uns auf einmal eine Frau an (Sie habe da ein paar Gesprächsfetzen aufgeschnappt, und wir würden tatsächlich bis San Francisco radeln?) und lädt uns zum Abendessen ein (Barbecue, was sonst?), damit sie uns ihrem Mann und ihrem radbegeisterten Sohn vorstellen kann. Die ganze mühselige Herbergssuche hätten wir uns sparen können: Als wir Joanna erzählen, dass wir bereits eine Bleibe für die Nacht haben, ist sie beinahe beleidigt. – Beim Essen stellt sich dann auch noch heraus, dass sie zufällig den amerikanischen Musiklehrer unserer alten Schule in Wien kennt (die Welt ist wirklich klein).

Unserer kulinarischen Disziplinlosigkeit (wir essen zu lange), unserem mangelnden Orientierungssinn (wir verfahren uns ordentlich) und der absolut inakzeptablen Schotterstraße vor dem Haus (wir kommen in diesem Kiessumpf fast nicht vom Fleck) ist es zu verdanken, dass wir beinahe zu spät zum Rennen kommen.

Vor der Rennstrecke gibt es dann eine herzzerreißende Wiedervereinigungsszene. Alle sind sie gekommen: nicht nur Debbie und ihr Mann, sondern auch Mike und Jake; noch dazu mit ihrem „Motorhome“ (einen kleinen Palast auf Rädern) und jeder Menge Getränke (die wissen schon, wie man Feste feiert). Wir fallen einander in die Arme wie gute alte Freunde, die einander schon seit Jahren nicht mehr gesehen haben.

Von einer Plattform aus mitten im zentral gelegenen Fahrerlager dürfen wir dann mit Troys Mechanikercrew zusammen die Auftritte des großen Meisters genießen. Yes! Das hier ist das wahre Amerika: Unter dem Gegröle der Menge brettern die Piloten mit ihren Fünf- bis Acht-Liter-Maschinen in halsbrecherischen Schräglagen um den Flutlicht-Ovalkurs. Der Dreck fliegt, Kotflügel und Spoiler fliegen, und wenn wieder einer zu viel geschubst hat, fliegt gelegentlich auch mal ein Wagen über die Kante außer Sichtweite in den dahinter liegenden Graben, dass es nur so kracht. Aber das gehört hier wirklich dazu.

Troy startet gleich in zwei verschiedenen Hubraumklassen und schlägt sich dabei mehr als wacker. In der Hobby-Stock-Klasse muss er allerdings auch noch gegen höhere Gewalten antreten: Einer der Zylinder will nicht so richtig mit und macht Troy im letzten der beiden Qualifikationsläufe doch noch einen Strich durch die Rechnung. In der Klasse der Acht-Zylinder-Aggregate wird Troy nach überlegener Führung dafür in beiden Läufen Erster.

Ein richtiges Stock-Car-Race in uriger US-Provinzdorf-Atmosphäre: die Erfüllung einer meiner größten Amerika-Träume!

Tobi strahlt das ganze Rennen über wie ein Weihnachtsbaum.

Auch Debbie genießt mit sichtlichem Vergnügen, was sie uns damit für eine Freude gemacht hat. Nicht einmal zwei Tage kennen wir diese Familie und der Abschied fällt richtig schwer. Nach Troys Siegesfeier und ein paar rührenden Erinnerungsfotos fahren uns Mike und Jake zu Matt, dem Lifeguard, wo wir mit ihm und seiner Schwester im Keller noch bis halb zwei Uhr Billard spielen.

Als wir anschließend unserer Schwester daheim mitten in der Nacht eine E-Mail schicken, stoßen wir an Matts Zimmerwand auf einen Wien-Plan (Freytag & Berndt), auf dem wir dann für ihn noch wehmütig eine virtuelle Sightseeingtour veranstalten.
 

Good Vibrations!

Iowas Straßen stecken wirklich voller Zeichen und Wunder: Vor jedem Stoppschild verwandelt sich die Fahrbahn auf zwanzig Metern in ein betoniertes Waschbrett, das die bevorstehende Kreuzung offenbar akustisch ankündigen soll. Wenn man mit so einem in Watte gepackten Ami-Straßenkreuzer drüberfährt, verursacht das außer einem sanften, stimulierenden Vibrieren in der Magengegend wohl nur das erwünschte „Singen“ der Reifen. Mit einem ungefederten Fahrrad muss man allerdings beim Überqueren der Rüttelrillen schon ein bisschen besser aufpassen: Toupet festhalten, dritte Zähne kräftig zusammenbeißen – und durch. Gezählte 3 x 30 Rippen, dann ist der Scheppertest überstanden.

Darüber hinaus erfüllen die singenden Kreuzungen aber zweifellos ihren Zweck: Nicht nur, dass sie sanft entschlummerte Autofahrer aus ihren Träumen holen (kann ja auf diesen schnurgeraden Straßen schon mal vorkommen), sie ermöglichen auch blinden und stark sehbehinderten Verkehrsteilnehmern bei einigermaßen intakter Reaktionsfähigkeit eine tadellose Punktlandung am Kreuzungseingang (wie’s dann weitergeht, ist eine andere Geschichte …). – Die Amis sind uns Europäern in puncto Innovation eben wieder mal eine Nasenlänge voraus: Bei uns rühmt man die Funktionsfähigkeit der Blindenstreifen, die in den Wiener U-Bahn-Stationen zu und von den Zügen führen. Onkel Sam hat diese behindertengerechte Technik offenbar schon vor Jahren auf den Individualverkehr umgelegt.


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Stefan & Tobi