Wir sind fett geworden in New York: Ganze vier Tage waren wir hier. Viel zu lange. Der nächste Ort, an dem wir so lange ausharren wollen, ist weit weg. Es wird San Francisco sein. Hoffentlich.

Am Nachmittag kaufen wir Bustickets nach Boston: Abfahrt 2.30 Uhr früh, Ankunft gegen sieben. Es geht los. Wir verstauen unser bisheriges Leben in einem Pappkarton. Taschen oder womöglich Koffer sind jetzt fehl am Platz. Minimalismus ist angesagt. Alles, was wir von hier aus mitnehmen, müssen wir die nächsten Monate mitschleppen; mehr als 6000 Kilometer weit und über die Rocky Mountains. Alles andere wird lange vor uns in Kalifornien sein: im Koffer, den wir von hier an die Westküste verschicken.

Alles, was ich in den Koffer lege, wird noch einmal genau begutachtet. Die Laufschuhe, die wir für den Central Park mitgenommen hatten, und die Reserve-Jeans haben’s gut. Sie müssen die Tortur nicht mitmachen. In drei Monaten sehen wir uns (hoffentlich) wieder – am anderen Ozean …

Einpacken, Karton zukleben, wegtragen. Sehr einfach. Nur wir sind noch nicht ganz so weit. Aber darauf kann jetzt wirklich keiner mehr Rücksicht nehmen. Die Zeit bis zur Abfahrt schiebt uns vor sich her. Noch ein Plastikbeutel fürs Handgepäck. Eine Flasche Tennessee Sour Mash Whiskey kommt auch hinein. Für unterwegs, wir haben ja was zu feiern – und eine behütete Vergangenheit, die wir bis Boston am besten vergessen haben sollten.

Am Abend genießen wir noch ein letztes Mal New York City: Flashdancers, ein Nachtklub am Broadway. Die ultimative Ablenkung vor dem Takeoff. – Ach, ein letztes Mal nackte Frauen sehen. Wer weiß, ob’s die weiter im Westen auch noch gibt.

Weil sich Tobi nicht von der Mitternachtseinlage „Die größten Titten der Welt“ losreißen kann, stimmt unser Zeitplan nicht mehr.

Im Dauerlauf geht’s mit dem unhandlichen Karton zur U-Bahn. Dann warten wir zwanzig Minuten auf den Zug. Umsteigen müssen wir auch noch zweimal bis zum Busbahnhof „Port Authority“. Und der Greyhound legt in einer halben Stunde ab. Will sie uns am Ende gar nicht haben, unsere Abenteuerreise? Das wird verdammt knapp.

Bei der ersten Gelegenheit disponieren wir um. Im Taxi geht’s direkt zum Busbahnhof. Wir verlieren wertvolle Dollars, gewinnen dafür wertvolle Zeit. Trotzdem laufen wir durch die Wartehalle zu Gate 13. Sicher ist sicher. Cool sein ist jetzt nicht angesagt.

Stefan brüllt laut und vernehmlich „Scheiße!“ hinter mir. Ich drehe mich nicht um, laufe weiter. Sicher ist ihm der Schuh aufgegangen oder die Nase läuft. Man kennt das ja bei ihm.

Wenige Schritte vor der Rolltreppe reißt der Griff von meinem Plastikbeutel. Der Sack kracht klirrend auf den Marmorboden. Als ich ihn aufhebe, fließt aus einem Dutzend kleiner Löcher bernsteinfarbener Bourbon.

Als Stefan fünf Minuten nach mir stinkwütend den Bus erreicht (ich dachte schon, er hat sich im Bahnhof verlaufen), muss ich erst lachen – typisch Stefan –, dann ärgere ich mich laut darüber, dass unser teurer Schlaftrunk jetzt auf der Rolltreppe spazieren fährt. Stefan wird daraufhin ein bisschen aggressiv – aus seiner Sicht verständlich.

Zerknirscht überreiche ich dem Busfahrer meine durchtränkte Fahrkarte.

Als der chromfarbene Greyhound laut dröhnend im „Port Authority“-Tunnel anfährt, wird mir mit einem Schlag klar, dass das Abenteuer in diesem Augenblick begonnen hat.

Während wir Manhattan in nördlicher Richtung durch Harlem verlassen, verbietet der Chauffeur über die Lautsprecheranlage das Rauchen und Trinken während der Fahrt und weist die anderen Passagiere mit unüberhörbarem Vergnügen auf das süßlich-malzige Sour-Mash-Aroma hin, das sich inzwischen bis in den letzten Winkel des Busses ausgebreitet hat. („… hat er hoch und heilig versprochen, dass das alles von seiner Kleidung kommt und dass er keinen Tropfen davon getrunken hat!“ – Der ganze Bus schaut amüsiert in unsere Richtung.)

Bourbon ist ansteckend: Vom Regenschutz aufs T-Shirt, von den Socken auf die Schuhe. An diese Nacht werde ich noch lange denken. Wenigstens kann ich jetzt nicht mehr verloren gehen: Der instinktloseste Straßenköter Nordamerikas würde mich jetzt sogar beim Ausatmen mit verstopfter Nase riechen können.

Wenig später schlafe ich ein (es ist fast drei Uhr früh). Kurze Momente leichten Wegdösens bringen Schlaglichter der Umgebung: Die Suburbs von New York, der Highway mit seinen schlachtschiffartigen Karossen, die ersten zünftigen Trucks, die Vier-Uhr-Rast, kalte Drive-In-Hamburger im orangen Natronlicht der Parkplatzlampen und schales Dr. Pepper. Dann eine blasse aufgehende Sonne und schließlich eine sich im Zeitraffertempo verdichtende Wolkendecke.

Eine halbe Stunde vor Boston beginnt es zu regnen. Es ist 6.30 Uhr. In drei Stunden wollen wir im Radgeschäft sein, unsere Räder holen und losfahren.

Aber es wird sowieso alles anders kommen.

In der Terminal-Toilette von Boston widme ich eine halbe Stunde dem Versuch, meine Sachen vom Bourbon-Duft zu befreien. Dann gebe ich auf. Durch strömenden Regen kämpfen wir uns in die neue Ankunftshalle. Eigenartig, dass in meinen Tagträumen vom Radfahren in Amerika nie Regen vorkam.

In der Ankunftshalle strömt Bostons morgendliche Rushhour-Armee von den Pendlerzügen auf uns ein. Wir kämpfen uns durch Strom und Gegenstrom bis zu einem Steh-Café und versuchen bei Croissants und Kuchen, in dieser desillusionierenden Umgebung unser nicht einmal zwölf Stunden altes Heldenepos über Wasser zu halten.

Wie zwei Sandler (Stefan stinkt, ich trage den Pappkarton) lassen wir uns zur U-Bahn-Station treiben und steigen in den Zug Richtung Radgeschäft.


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Stefan & Tobi