Shit!

Ruf der Wildnis

 

Noch bevor wir uns ausreichend von unserer Schlafstätte distanzieren können, fängt uns Chicos Elitetruppe baptistischer Redefanatiker ab. Ohne dass einer von den dreien (zwei Frauen und ein Mann) erkennbar Luft holt, umzingeln sie uns mit großkalibrigen Wortschwallen und halten uns damit so lange in Schach, bis wir einem von ihnen listig eine Kamera in die Hand drücken, um ein Erinnerungsfoto zu schießen. Dem verschlägt’s daraufhin für fast drei Minuten die Sprache (bis er den Auslöser gefunden hat), was wir wiederum nützen können, um unsere Flucht vorzubereiten.

Nach einem französischen Frühstück in einem Dinner-Bistro (Croissants, Flan und nette Mädchen) fahren wir auf Route 45 an Dayton vorbei nach Süden. – 19 Meilen später legen wir vor einem Supermarkt eine kleine Getränkepause ein.

Während Tobi stundenlang mit einem Freund in New York telefoniert, unterhalte ich mich mit ein paar Einheimischen und reiße dabei – nur so zur Übung – eine Übernachtungsmöglichkeit auf. Weil’s aber dann doch noch ein bisschen früh ist, fahren wir schließlich weiter.

Immerhin: Durch den Anruf haben wir jetzt eine Adresse in der Nähe von Santa Rosa, wo wir, wenn wir wollen, morgen oder übermorgen übernachten können.

Wenig später bekommt Tobi plötzlich einen Durchfall-Anfall. Ob er wohl irgendwas Falsches gegessen oder getrunken hat? Und ob er das nicht hätte erledigen können, als wir noch vor dem Supermarkt standen? – Auf jeden Fall muss er mitten in der allergrößten Walnussplantage – weit und breit kein Haus – ganz dringend aufs Klo.

Eilig verlassen unsere beiden Helden den Highway, fahren ein kleines Stück einen Feldweg entlang und stellen die Räder an einem Walnussbaum ab …

Als wir wieder auf dem Feldweg sind, sehen wir, dass unsere Reifen gespickt sind mit reißzweckenähnlichen Distelsamen (Mutter Natur hat sich hier offenbar gegen scheißende Radfahrer etwas einfallen lassen!): Überall stecken fünf bis sechs Millimeter lange Stacheln. Bange Minuten, während wir unsere Räder wie Bräute auf den Armen zur Straße tragen und vorsichtig alles, was nicht hineingehört, rausziehen. („Sie liebt mich – sie liebt mich nicht!“ – „Pfffft …“)

Die Bilanz: Wir haben noch vier Reifenpflaster. Tobi hat ein kleines Loch irgendwo im Vorderrad. Das könnte man flicken. Mein Hinterrad scheint mehr abgekriegt zu haben (juhuu, schon mein zweiter kaputter Schlauch – und dabei sind’s jetzt nicht einmal mehr 250 Meilen bis San Francisco). Wir können natürlich mit den verbleibenden vier Pflastern munter drauflosreparieren. Was aber, wenn der verdammte Schlauch mehr als vier Löcher hat? Oder wenn wir einen Stachel im Mantel übersehen, der uns dann beim Wiederaufpumpen das nächste Loch reißt? (Alles schon da gewesen … )

In diesem Moment beweist mir Stefan, dass auch Chaoten ein Recht zu leben haben: Keine Ahnung, wie oft ich mich bisher auf dieser Reise über seine Vergesslichkeit oder seine fast schon krankhafte Sammelwut für Gerümpel (alte Nummerntafeln etc.) aufgeregt habe. Jetzt allerdings fehlen mir die Worte. Zieht dieser Typ doch tatsächlich den alten Schlauch aus seiner Satteltasche, den er in Red Bluff mit einem Nagel durchbohrt hat, und meint: „Schau, Tobi: In diesem Schlauch sind eindeutig nur zwei Löcher, in dem anderen ist möglicherweise nur ein Loch, vielleicht sind’s aber auch sechs. Nehmen wir doch den, für den wir bestimmt nur zwei Pflaster brauchen.“ – Entwaffnende Logik! Ich spare mir die Frage, warum er einen Schlauch mit zwei Löchern mit sich herumschleppt.

Als ich meine Satteltaschen wieder aufs frisch geflickte Hinterrad montiere, fährt Tobi los. Das Loch in seinem Vorderreifen ist so klein, dass er beschlossen hat, den Schlauch lieber alle zehn Meilen einmal aufzupumpen und dafür zwei Flicken in Reserve zu haben. – Während ich noch mit der schmierigen Kette kämpfe, bemächtigen sich gierige Ameisen still und heimlich meiner Sachen. Ein Toastbrotsackerl muss ich aufgeben (komplett durchgefressen!), meinen Camelbak kann ich retten. Ich komme mit dem Leben davon.

Nachdem die gefräßigen Insekten einen Großteil unseres Reiseproviants verputzt haben, vertrauen wir uns in Colusa wieder einmal einem typisch amerikanischen Fress-Sonderangebot an: All-you-can-eat-Rippchen mit Salatbar und kostenlosen Coke-Refills. – Die Rippchen drücken und zwicken zwar ein wenig (vielleicht hätten wir sie doch nicht so gierig hinunterschlingen sollen), dafür bieten sie eine solide Grundlage für den restlichen Tag.

Boxenstopp in Williams. Wir tanken Wasser, kaufen Bananen und halten oberflächlich Ausschau nach einem Nachtquartier. Schließlich entscheiden wir uns, doch weiterzufahren: Es liegt zwar schon ein Hauch von Abend in der Luft. Aber wenn wir heute noch ein paar Meilen schaffen, können wir morgen eventuell schon in Santa Rosa sein.

Nur gibt es nach Williams leider weit und breit kein Haus mehr. Nichts außer Bergen (jetzt aber wirklich endgültig den letzten) und einer erstaunlich schnell untergehenden Sonne. Im Zwielicht erreichen wir den Beginn der ersten Steigung. Als wir die bewältigt haben, ist es fast dunkel. Eigentlich hatten wir uns hier oben ein paar Farmhäuser erhofft. Stattdessen müssen wir aber teuflisch aufpassen, dass uns nicht irgendein nach Hause eilender Pendler niederfährt. Trotz vorgerückter Stunde ist der Verkehr hier oben noch immer beträchtlich. – Schließlich packen wir unsere Taschenlampen aus …

Während Tobi mit seinem roten Blinklicht hinter mir fährt, leuchte ich in Fahrtrichtung nach dem Weg.

Langsam erhärtet sich der Verdacht, dass wir heute, nach 64 wohlbehüteten Nächten, endgültig im Straßengraben schlafen müssen. Ob’s hier wohl böse Schlangen gibt? Oben auf dem nächsten Plateau sehen wir uns nach einem geeigneten Wiesenstück oder einem überschaubaren Feldweg um. Wir können aber nichts entdecken, das wirklich einladend aussieht.

Abfahrt im Lichtkegel der Taschenlampe. An der Talsohle hat uns der Straßenatlas eine Kreuzung in Aussicht gestellt. Die wollen wir noch erreichen. An Kreuzungen stehen doch immer irgendwelche Häuser, oder?

Wir haben Glück. Aus der Dunkelheit tauchen plötzlich die Umrisse einer Feuerwehrstation auf. – Alle unsere Erwartungen werden wieder einmal übertroffen. Die Stationsleiterin erklärt uns, dass hier nur selten so coole Typen wie wir vorbeikommen. Die übliche Kundschaft bestehe aus irgendwelchen Losern; Softies, deren Fahrzeug zusammengebrochen ist, zum Beispiel … – Ein Glück, dass die uns nicht näher kennt. Wir freuen uns jedenfalls auch, dass wir hier sind.

So kommen wir heute noch in den unerwarteten Genuss luxuriöser Duschräume. Anschließend, zum Fernsehen, serviert man uns Ananassaft. Auch das heutige Schlafgemach in der Garage hat etwas Exklusives: Direkt neben uns ruht das zwölf Tonnen schwere Löschzug-Schlachtschiff der Station. Sollte heute Nacht Feueralarm sein, erklärt man uns lakonisch, dann müssten wir uns in unseren Schlafsäcken halt schnell mal zur Seite rollen, damit der Löschtrupp ausrücken kann. – Na dann: Gute Nacht!


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Stefan & Tobi