Nichts geht mehr.

Robert De Niro in „Casino“

 

Als ich am Morgen auf die Veranda trete, ist mein Fahrrad weg. Panik! – Als ich zurück ins Haus stürze, lehnt es wie selbstverständlich am Küchentisch (wo sonst?); ich hatte es im Vorbeigehen einfach übersehen …  So viel zu meinem heutigen Geisteszustand.

Eigentlich wollten wir Walton ja so schnell wie möglich verlassen, aber als uns am Ortsausgang der Hunger übermannt, fallen wir stattdessen in ein Deli ein, wo wir bei einer Kellnerin namens Denise Frühstück um 99 Cents bestellen. Wir essen alles auf und bestellen danach bei der Kellnerin namens Denise umgehend noch einmal Frühstück. Doch die Kellnerin lässt sich nicht verwirren und berechnet uns das Frühstück gleich viermal. (Hatten wir wirklich so viel?) Danach gelingt es uns, spät aber doch, mit heiler Haut aus Walton zu entkommen.

Es ist der mühsamste Tag bisher. In der Ebene hätten wir vielleicht 100 Meilen gemacht; aber in den Bergen um Masonville …  – Vielleicht der Fluch der Waltons? Die ganze Zeit entweder steil bergauf oder steil bergab. Dieser verdammte letzte Berg rüttelt ganz furchtbar an meiner Schmerzgrenze. Wenn das hier schon anfängt, wie um Himmels willen sollen wir dann die Rockies schaffen?!

Um drei Uhr nachmittags haben wir erst 25 Meilen zurückgelegt. Anstatt zu fahren, liegen wir abseits der Straße im Gras herum. Gedanken fließen zäh, die Tage verschwimmen, verlieren die Konturen. Obwohl es schon so lange her ist, sind wir doch eben noch in den Bergen von Connecticut herumgeradelt. Oder nicht?

Es ist angenehm, vom Rad zu steigen und sich auf den Boden zu legen: Als ob man von Bord eines Schiffes geht und endlich wieder festen Grund unter den Füßen hat. – Seit Tagen haben wir uns nicht mehr gefragt, ob wir genug Kraft für diese Reise haben. Jetzt zeichnet sich aber ab, dass die wahre Stärke woanders liegen muss: Motivation.

Ich bin mir nicht mehr sicher, ob wir überhaupt im richtigen Maßstab reisen. 30 statt 60 Meilen am Tag wären wahrscheinlich auch genug. Genug jedenfalls, um sich erledigt und verbraucht zu fühlen, und wohl auch genug, um eines schönen Tages mit einem Gepäckträger voller Abenteuer in San Francisco anzukommen.

Irgendwann vor unserer Abfahrt hatten wir beschlossen, dass 100 Kilometer (oder rund 60 Meilen) am Tag eine schaffbare Distanz wären. Seitdem haben wir über den Sinn oder Unsinn dieser aus der Luft gegriffenen Zahl nicht mehr nachgedacht. Wer mit dem Auto reist, bekommt nur einen Kurzfilm serviert. Aber muss man denn mit dem Rad genauso rasen?

Ich blicke von der Straße aus in die Ferne. Dieser Kontinent ist so schön! Ich frage mich, ob wir das nur so empfinden, weil wir die großen Städte und Highways meiden. Natürlich gibt es dort draußen auch Städte. Aber welches Amerika ist das echte? Und welches Amerika meinen die, die behaupten, dass sie Amerika kennen und nicht mögen? – Wir haben in so wenigen Tagen bereits so viel Unterschiedliches gesehen. Unverständlich, dass das alles zu einem Land gehört.

Unablässig beschäftigt mich die Frage, wie groß Amerika ist und wie lange drei Monate dauern. Zeit und Raum sind die maßgeblichen Kategorien geworden. Unser Rückflug ist jedenfalls gebucht. 24. August. Programmierter Notausgang. Keine Fahrt in die zeitlose Unendlichkeit. Das raubt einem irgendwie die Illusionen: Schwierig loszulassen, wenn man an beiden Enden festgebunden ist …

Eigentlich wollten wir ja noch weiter als Whitney Point fahren, aber da war auf einmal diese hässliche, schwarze Wolke, und außerdem wollte Stefan nach seinen geistigen Tagebuch-Ergüssen unbedingt eine halbe Gallone Eis verdrücken.

Es war daher nur logisch, dass wir uns gerade mit einem mittelgroßen Fass „Vanilla Fudge“ in dem überdachten Hinterhof eines Postgebäudes befanden, als auf einmal dieser nette, wunderliche Ex-Cop mit seinem Colly-Schäfer-Mischling daherkam.

So ist das mit Amerika: Ein Wort gibt das andere, und ehe man sich’s versieht, ist man auf eine Garage und eine heiße Dusche eingeladen …

Am Abend gehen wir noch ein bisschen spazieren und flüchten vor einem hereinbrechenden Unwetter in ein Dartslokal. Nach einer vernichtenden 501er-Niederlage gegen die Einheimischen werden wir wieder einmal vor dem restlichen Amerika und seinen miesen Bewohnern gewarnt. Danach prophezeit man uns Ruhm: Toll sei das, dass wir es (was eigentlich?) nicht für Geld machen, sondern aus Idealismus! – Ja sicher, Geld wäre auch nicht schlecht gewesen, wenden wir ein (wenn uns jemand welches angeboten hätte). Doch für Jodie, den Einheimischen, ist der Fall klar: Die Medien werden uns suchen. Sie werden uns finden. Und sie werden uns berühmt machen, ob wir wollen oder nicht. – Wir entgegnen: „Jodie, quit living in dreams. Jodie, life is not what it seems!“, und fügen hinzu: „Niemand wird uns finden!“ Und dabei bleibt es. (Der Rest ist österreichische Popgeschichte …)

Draußen geht in der Zwischenzeit die Welt unter. Göttervater Zeus hat aus Versehen sein Badewasser über Whitney Point ausgelassen und scheint darüber so wütend zu sein, dass er gleich die Familienpackung Blitz & Donner (20% mehr Inhalt) hinterherschmeißt. Als die Feuerwehr deshalb mit Pauken und Posaunen ausrückt, springen viele Gäste von ihren Barhockern auf und stürzen zum Fenster: Nicht, weil vielleicht der Einsatz so interessant wäre. Aber man will doch sichergehen, dass er nicht dem eigenen Haus gilt.

Danach fährt uns Jodie netterweise mit seinem Amphibien-Ford „flußaufwärts“ nach Hause: Er und Charley, der pensionierte Cop, der uns heute beherbergt, sind gute Freunde, erzählt er uns auf dem Weg. – Jodie kennt Charley!? Die Welt ist doch klein!

Jodie ist auf den ersten Blick ein angenehmer, junger Durchschnittstyp mit Haus, Familie, Schulden und einer nicht zu überhörenden Portion Neid auf unsere „zügellose“ Freiheit. Als er von Charley, unserem allein lebenden Gastgeber, nur Gutes erzählt, verschafft er mir damit ein wenig Erleichterung: Charley war vom ersten Moment an so freundlich und ruhig, dass sich jetzt in meinem Unterbewusstsein doch ein kleiner Knopf gelöst hat.

Nach einem letzten Pläuschchen zu viert in Charleys Wohnzimmer (in der Ecke lauern zwei blank geputzte Schrotflinten auf gesetzlose Rechtsbrecher – der allerübelste Abschaum –, und im Schlafzimmer läuft statt des Fernsehers der Polizeifunk) hauen wir uns in die Falle. „Morgen ist auch noch ein Tag“, liegt uns beim Abschied auf der Zunge. Aber das sagt man zu leichtfertig, wenn man einen Kontinent zu durchqueren hat. 


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Stefan & Tobi